Verknotungen Erzählungen. Wilhelm Thöring

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Verknotungen  Erzählungen - Wilhelm Thöring

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mir, sagt Mutter Jettchen sich, ist das ganz anders. Ich brauche kein Licht, trotzdem werde ich es nicht ausschalten. Mein Licht soll mit ihrem Licht brennen.

      Sie lacht auf, als wäre ihr ein Streich gelungen.

      Am Spätnachmittag des folgenden Tags legt Mutter Jettchen die Sicherheitskette vor und lässt die Tür offen stehen. So kann sie hören, wenn Frau Wenzke die Treppe heraufkommt.

      Auf dem Küchentisch warten die Teetassen.

      Es wird spät heute, sehr spät. Frau Wenzke kommt nicht. Mutter Jettchen wird unruhig. Sie kann es nicht mehr am Türspalt aushalten. Sie macht ein besorgtes Gesicht, tappt in den Flur, tastet sich an die Türen, klingelt oder pocht. Dass es mittlerweile Nacht geworden ist, kann sie nicht sehen. Um das zu erfahren, müsste sie den hetzenden Wecker befühlen.

      Gütiger Gott! Sollte Frau Wenzke etwas zugestoßen sein?

      Bestimmt hat sie gerufen, und ich habe es nicht gehört. Dann ist sie in ihre Wohnung gegangen.

      Mutter Jettchen ist aufgeregt. Sie scheut sich nicht, Frau Wenzkes Namen laut in den Flur zu rufen. Nichts. Ihre Stimme erreicht niemanden mehr. Wenn sie in ihrer Aufregung geht, dann prallt sie gegen Wände.

      Frau Wenzke hat heute Morgen gar nicht das Haus verlassen, geht es ihr plötzlich durch den Kopf. Sie ist krank, sie wartet auf mich!

      Mutter Jettchen tastet sich in die fünfte Etage hinauf. Hier gibt es viele Wohnungen, und alle sind verschlossen. Die Leute ziehen weg und verschließen die Wohnung, als müssten sie gesichert werden, weil sie wiederkommen.

      Sie betastet die Namensschilder. Sie ruft. Schließlich zieht sie einen Klingelknopf. Hinter der Tür schrillt die Klingel, schauderhaft und laut, wie ein aufgeschrecktes Tier. Noch einmal. Sie lauscht wieder. Außer der Klingel ist niemand in der Wohnung.

      Mutter Jettchen gerät außer sich. Sie ist so aufgeregt, dass sie alle Klingeln in der fünften Etage schreien lässt.

      Und sie schreit mit, schreit sich heiser; schreit, bis sie fast besinnungslos wird.

      Zerschlagen und ausgebrannt taumelt sie in ihre Wohnung zurück.

      Winselnd reibt sie ihre Arme, schaukelt auf dem weißen Stuhl hin und her. Sie begreift: Außer ihr gibt es niemanden mehr in diesem Haus. In diesem Labyrinth von Fluren und Gängen, von Etagen und Treppen ist sie allein.

      „Sie ist also weggezogen“, weint sie. „Sie sagte es nicht, weil sie es mir nicht schwer machen wollte. Aber übermorgen wird sie kommen und mit mir aufs Amt gehen. Sie hat es versprochen!“

      Es dauert lange, bis Mutter Jettchen etwas ruhiger wird. Zuerst läuft sie wie von allen guten Geistern verlassen durch die Wohnung. Sie läuft und läuft und klagt und fuchtelt mit den Armen, dass es so eine Art ist. Diesmal ist sie wie eine Fremde in den eigenen Stuben: Immer stößt sie irgendwo gegen.

      Endlich setzt sie sich in die Küche auf den weißen Stuhl mit den vielen Kissen, unter denen Strümpfe und Taschentücher hervorquellen.

      Ohne es zu wollen befühlt sie den Wecker: So, Mitternacht ist schon lange vorüber!

      Der Kopf ist leer, ihre Hände liegen ergeben im Schoß. Wieder befühlt sie den Wecker. Und wieder wundert sie sich, dass es so spät geworden ist. Mit dem Körper hin und herschaukelnd, klagt sie:

      „Ich friere. Die Wohnung ist ausgekühlt. Ich sollte die Backröhre anheizen. Jetzt noch!“

      Und sofort hat sie auch das wieder vergessen. Wie kopflos sie ist, sie kann sich nichts merken. Sie sitzt da und denkt so seltsam durcheinander. Wieder klagt sie:

      „Meine Augen brennen aber auch! Sie vertragen es nicht mehr, wenn ich weine. Gott, was ist das für ein Tag! Das ertrage ich nicht ... Macht mir Hoffnung, die Frau, und dann bleibt sie einfach weg! Das bringt mich um!“

      Schwerfällig steht Mutter Jettchen auf und geht in die Schlafstube. Angekleidet legt sie sich aufs Bett.

      Da liegt sie nun und wartet.

      Warten? Worauf soll ich warten? Auf den Schlaf? Auf Frau Wenzke? Auf den Tod? Ja, auf den will ich warten. Der kommt bestimmt, der enttäuscht mich nicht.

      Woher sollt Mutter Jettchen wissen, dass sie Frau Wenzke Unrecht tut? Frau Wenzke hat es ernst gemeint, als sie gestern Abend sagte: Gute Nacht! Bis morgen. Und übermorgen gehen wir aufs Amt!

      Frau Wenzke hat, wie Mutter Jettchen auch, an den anderen Tag geglaubt. Woher sollte Mutter Jettchen wissen, was an diesem Tag weit weg von diesem Viertel geschehen ist?

      In der Frühe hat Frau Wenzke das Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf verlassen und ist, wie an jedem Morgen, zu ihrer Arbeitsstelle gefahren. Wie alle Tage musste sie sich auch heute beeilen, um hinter die Theke der Werkskantine zu kommen.

      Am Spätnachmittag wollte sie Kuchen kaufen und Mutter Jettchen damit überraschen. Die alte Frau wird sich freuen, einmal frischen Kuchen essen zu können. So dachte sie.

      Sehr vorsichtig wollte sie ihr anbieten, das Haar zu waschen und zu frisieren. Behutsam wollte sie das sagen. Und die langen, eckigen Fingernägel beschneiden. Mutter Jettchens Fingernägel sehen aus wie Tierkrallen, gelblichbraun und voller Verdickungen.

      Irgendwer muss das doch einmal bei der alten Frau tun!

      So dachte Frau Wenzke, als die Straßenbahn sie durch die Nacht zur Kantine fuhr.

      Alle Fahrgäste waren bereits ausgestiegen, die Bahn hatte die Endstation erreicht. Frau Wenzke saß noch auf ihrem Platz, tief in Gedanken. Wohl auch ein bisschen müde. Der Fahrer wandte den Kopf, sah sie an, grinste – Frau Wenzke merkte nichts. Sie blickte weiter zum Fenster hinaus, sah ihr Spiegelbild in der Scheibe.

      „Hallo!“ Der Fahrer rief nicht übermäßig laut. „Endstation, meine Dame!“

      Frau Wenzke zuckte zusammen, lief zur Tür und sprang in die Nacht hinein. Sie sprang direkt in das schwarze Loch zwischen den beiden Scheinwerfern eines Autos, die auf sie zurasten. Ein dumpfer Schlag, Quietschen von Rädern, zerspringendes Glas – etliche Meter weiter in einer Anlage kam der Wagen zum Stehen.

      Frau Wenzke lag auf der Straße, beinahe unter der Straßenbahn. Seltsam verbogen lag sie auf dem Pflaster. Aus ihrem Mund floss Blut, dicke, rote, zerspringende Blasen. Auch aus Nase und Ohren floss es.

      Neben ihr kniete der Straßenbahnfahrer und sagte immerzu: „O Gott! O Gott!“

      Menschen kamen gelaufen, später hastete ein Rettungswagen heran. Ein Arzt beugte sich über sie, horchte, leuchtete in ihre starren Augen – „Ex!“ sagte er und gab Zeichen, dass man Frau Wenzke wegtrage.

      Das geschah in der Frühe, als Mutter Jettchen einem schönen Tag entgegen schlief.

      Wer berichtet ihr von diesem Vorfall? Mutter Jettchen liest keine Zeitung, sie bekommt auch keine. Zeitung, das ist für sie nur raschelndes Papier, das sie in den Ofen wirft, um anzuheizen. Wenn sie liest, dann liest sie mit den Fingern. Aber auch das hat sie schon lange bleiben lassen.

      Wer soll ihr das berichten?

      Sie wartet am nächsten und übernächsten Tag auf ein Zeichen von Frau Wenzke. Dann gibt

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