Verknotungen Erzählungen. Wilhelm Thöring
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Читать онлайн книгу Verknotungen Erzählungen - Wilhelm Thöring страница 6
Das Sterben in der Kronprinzenstraße greift nach Mutter Jettchen, nach der alten blinden Frau.
Der Rückweg in die Wohnung ist lang. Endlich hat sie es geschafft. Das war ihr letzter Gang, der allerletzte steht ihr bevor. Das dauert nicht mehr lange.
Hier auf dem Küchenstuhl, auf dem sie die meiste Zeit zubrachte, will sie warten. Der Tod soll sie bereit finden, bereit und willig. Darum schließt sie die Korridortür nicht mehr ab.
„Komm doch endlich herein!“ ruft sie aus ihrer Ecke am Fenster. „Warum lässt du mich so lange warten?“
Ein merkwürdiger, ein fremder Glanz ist auf ihrem Gesicht. Mit geneigtem Kopf wartet sie, die Hände übereinander im Schoß.
Es ist Frühjahr geworden.
Ein blauer, kalter Himmel liegt über der Stadt. Die Sonne strahlt, aber sie wärmt nicht. Heute Morgen lag Reif auf den Dächern und die Menschen waren missmutig, weil sie Frost von den Autoscheiben kratzen mussten.
In der Kronprinzenstraße gibt es nur noch wenige Häuser. Die meisten sind abgerissen worden. Heute ist das Haus Nummer zwölf an der Reihe. Nicht lange, und das Team um den Sprengmeister wird seine Kabel legen, es wird sich vom letzten Hinterhof nach vorne arbeiten.
„Das werden wir gleich haben!“ sagt der Sprengmeister zum Baggerführer. „Was unsere Hand berührt, das fällt in Schutt und Asche.“
Die Männer lachen.
Die, die die Wohnungen durchsehen müssen, drehen ihre letzte Runde. Anderswo haben sie Stadtstreicher darin aufgestöbert, oder einen verschreckten Hund. Einmal sogar spielende Kinder. Im Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf ist weder ein Stadtstreicher, noch ein Hund.
Nur eine kurze Zeit noch, dann wird der Sprengmeister das Haus Nummer zwölf zusammenfallen lassen. Er wird den kurzen Hebel in den Kasten drücken, der vor ihm steht. Das Haus wird stöhnen, krachen, und unter einer Wolke von Staub verschwinden. So schafft sich das Neue, das Stattliche Platz.
Dann gibt es einen blinden Fleck weniger im Gesicht der Stadt.
Heute muss der Sprengmeister länger warten.
Durch die Tür vom dritten Hinterhof kommt einer seiner Leute, atemlos und leichenblass und nicht fähig, zu reden.
„Chef, im dritten Hinterhof ... In der dritten Etage ... Wieder jemand, um den sich keiner gekümmert hat! Nur noch Knochen ... Wir brauchen die Feuerwehr! Nein, wir brauchen die Polizei!“
Milena
Milena kommt den Berg herunter.
Die ersten Tage, die sie im Dorf ist, wäre sie gerne hinauf gegangen, aber sie hat sich nicht getraut, und die Mutter hatte gefragt, ob sie sich in Gefahr begeben wolle oder gar den Tod suche. In diesen Tagen waren sie anders zueinander, als sie es jetzt sind: Sie saßen beisammen wie Menschen, deren jahrelange Sehnsucht in Erfüllung gegangen ist. Sie haben erzählt, weil es so viel zu erzählen gab. Sie haben sich angesehen, einander berührt, und gelacht. Milena wurde, wie die Mutter auch, von einer Woge erfüllten Glücks getragen. Die starken Gefühle der Kindheit waren es, die es für sie seit undenklichen Zeiten nicht mehr gegeben hat – diese Gefühle sind im Haus der Mutter wieder auferstanden. Für Milena ist es, als wäre ihr ein verloren gegangenes Spielzeug aus frühen Kindertagen plötzlich wieder vor die Füße gefallen. Wo sie saß oder stand, wo sie ging, überall meinte sie den weichen, streichelnden Blick der Mutter auf sich zu fühlen.
So war es in den ersten Tagen bei der Mutter in der geschundenen Heimat.
Heute ist es der letzte Tag, den Milena in der alten Heimat ist. Je näher er gekommen ist, umso schweigsamer wurde die Mutter. Sie ging der Tochter aus dem Weg, sie gab nur knappe Antworten auf Milenas Fragen. Etwas wie Entfremdung wächst zwischen ihnen. Und damit ist auch ihr das Dorf von Tag zu Tag fremder geworden. Nein, Heimat wie in der ersten Zeit ist es nicht mehr. Es ist Erinnern, ist wie eine alte Fotografie, die einmal Bedeutung hatte. Und die Mutter hat in den vergangenen zwei Wochen geholfen, dass die weichen Erinnerungen zerplatzten und zu einer unansehnlichen, zerkratzten Fotografie geworden sind, denkt Milena.
In aller Frühe ist sie heute aufgestanden und trotzdem auf den Berg gegangen. Obwohl es noch dunkel war und sie den Weg kaum sehen konnte. Sie fürchtete sich auch ein wenig, trotzdem ist sie gegangen.
Als Milena aus der Schlafkammer kam, hockte die Mutter vor dem Herd und blies das Feuer an.
‚Was willst du so früh in der Küche?’
‚Mutter, einmal muss ich doch auf den Berg!’
„Was willst du da“, knurrte die Mutter ärgerlich. „Hab ich dir nicht gesagt, dass es gefährlich ist, auf den Berg zu gehen? Da liegen Minen, da treiben sich Schurken herum!“
Ungehalten hat die Mutter den Kessel so hart ins Feuer gesetzt, dass er überschwappte.
„Anders als im Dorf ist es da auch nicht, Milena! Reicht dir nicht, was du hier ums Haus herum siehst? Wie hier, so haben sie auch anderswo alles kurz und klein geschlagen! Ach, wenn es das wäre! Nein, sie haben Frauen und Männer, Kinder und Alte wie Ratten abgeknallt oder tot geprügelt. Oder sie haben sie wie Schweine abgestochen. Sogar das Vieh, das sie nicht wegschleppen konnten, murksten sie ab, damit es nicht mehr zu gebrauchen war ... Ich sag dir: vorbei ist das noch immer nicht! Hier und da kommt es noch vor, dass sie vergewaltigen, totschlagen. Was willst du auf dem Berg? Was willst du da sehen?“
Die Mutter strich sich mit der Hand über die Gurgel, wie sie es früher beim Gänsemästen gemacht hat.
„Ich sage es dir noch einmal: Bleib hier, geht nicht auf den Berg! Geh erst recht nicht ins nächste Dorf! Weißt du, was dich da draußen erwartet? Bist doch früher auch nicht dahin gegangen. Bleibe hier, dass du heil wieder in die Staaten kommst!“
So viel hat die Mutter über eine Woche nicht mehr zu ihr gesprochen!
Milena ist doch gegangen, nicht nur, weil sie neugierig geworden war, sondern weil auch sie der Mutter ausweichen wollte. Sie ging einfach, und plötzlich steht sie oben auf dem Berg, von wo aus sie weit ins Land sehen kann.
Die Mutter kam, als sie die Tochter weggehen sah, vor die Tür und sah ihr kurz nach. Dann ging sie mit zusammengekniffenem Mund und gerunzelter Stirn ins Haus zurück. Und die Tür hat sie so fest zugeschlagen, dass Milena es hören musste.
In den Tälern liegt Dunst. Feucht ist es und kalt. Im Osten zeigt sich ein bleicher Strich am Horizont, der seine Farbe ändert, je weiter Milena aus dem Tal heraus kommt. Darin gleicht ein Dorf dem anderen, findet sie. Zerstörte Häuser, zerstörte Ställe und Scheunen. Verwilderte Gärten mit zerschossenen Bäumen, und zwischen den Trümmern trotz der Frühe ein paar Menschen und mageres Vieh. Das hat sie täglich gesehen. Auch in den Feldern hat sie nichts als den Tod gesehen. Nirgendwo Leben ...
Tot! Alles tot, wie auf einem Friedhof. Ja, das wird Damir wissen wollen, und ich werde es ihm erzählen: Wo du hinsiehst – du siehst nur den Tod!
Noch diesen Tag habe ich zwischen dem Tod – morgen werde ich nach Amerika zurückfliegen, wo Damir wartet, wo wir seit acht Jahren zu Hause sind.
Heute will Milena Abschied nehmen, denn sie weiß, es wird kein Wiedersehen geben. Sie