Verknotungen Erzählungen. Wilhelm Thöring

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Verknotungen  Erzählungen - Wilhelm Thöring

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hat sie vom Dorf anders Abschied genommen.

      Da ist ihr das Herz schwer gewesen, dass sie glaubte, sterben zu müssen. Sie hat nicht gegessen, nicht geschlafen, sie hat nur Abschied genommen mit endlosen Tränen, auch mit körperlichen Schmerzen. Sie glaubte, es nicht zu überleben. Es war wie an einem Grab. Aber ich komme wieder! hat es in ihr geschrieen. Für immer komme ich zurück!

      Nein, heute ist das anders. Keine Tränen, kein Schmerz, weil sie morgen das Land und die verschlossene, hart gewordene Mutter verlassen wird. Keine Trauer, keine Tränen!

      Wie wird es morgen, die Mutter gegenüber am Tisch, beim Frühstück sein? Daran will sie nicht denken. Vielleicht ist die Mutter milde und von ihren guten Gefühlen überwältigt, wie in der ersten Zeit. Oder wird sie noch schroffer sein, als sie in den letzten Tagen zu ihr gewesen ist.

      Milena weiß, was die Mutter hinter ihrem Schroffsein verbirgt. Sie wird es ertragen, angeschwiegen und nicht beachtet zu werden. Die Mutter war von jeher bemüht, Gefühle zu verbergen.

      Über Monate hat sie sich auf meinen Besuch gefreut, sagt Milena sich. Was kommt für sie danach? Ich muss es ertragen, wenn sie vor Trauer den Verstand zu verlieren droht.

      Die Mutter bestand darauf, dass Milena bei jedem Spaziergang den Hund Slobo mitnimmt. Der Hund kannte Milena nicht. Seit sie vom Wagen gesprungen, von der Mutter umarmt, bei der Hand genommen und in die niedrige, dunkle Stube geführt worden war, wich der Hund nicht mehr von ihrer Seite.

      „Siehst du“, meinte die Mutter, „der Slobo mag dich. Du hast immer noch Stallgeruch an dir. Trotz der acht Jahre Amerika! Wenn du aus dem Haus gehst, dann nimm ihn zu deinem Schutz mit. Lauf nicht ins Feld. Im Feld liegen Minen. Überall haben die Halunken dieses Teufelszeug eingegraben ...“!

      Hastig eilt die Mutter durch die Stube. Sie sieht nach dem Feuer, holt Geschirr aus dem Schrank, zupft an der Decke, die sie über das Sofa gebreitet hat, rührt im Topf – die Mutter möchte gleichzeitig alles erledigen. Und dabei sprudelt sie nichts anderes als Vorsichtsregeln hervor.

      Milena blickt auf den Berg zurück, auf dem sie gewesen ist. Jetzt ist der Berg kahl. Früher wucherten Büsche vom Dorfrand bis auf seine Kuppe. Da oben hat sie mit den Dorfkindern gespielt. Sie haben Maikäfer von den Bäumen geschüttelt und Blumen gepflückt, Vogeleier haben sie gesucht und Fallen gestellt. Und manchmal auch Eidechsen und Nattern gefangen. Im Winter rutschten sie auf Fassbrettern, oft bis in die Dunkelheit, den Hang herunter, bis die Mütter vor den Haustüren riefen:

      „Ja, wo bleibt ihr denn! Am Waldrand schleicht der Bär herum! Schnell, schnell ins Haus!“

      Kreischend, mit roten Gesichtern stürmten sie vom Fleck weg ins Dorf.

      Eine Zeit hat es im Jahr gegeben, da war der ganze Berg gelb vom Ginster, erinnert sie sich. Darüber stand Holunder, so dunkel unter seinen Zweigen. Versteckt in seinem Schatten, voreinander kniend haben Josip und ich uns geküsst! Mein erster Kuss ...

      Milena lacht, als ihr das einfällt.

      Josip, der Sohn des Lehrers, der lange, bleiche Bursche. Was hatte der für Haare! Geringelt und schwarz wie die eines Afrikaners. Kurz nach dem Kuss ist Josip verreist, in eine große Stadt, in ein Internat, hat er gesagt. Und ich wusste nicht, was das ist. Ich traute mich nicht, zu fragen!

      Josip ist in unserem Dorf nie wieder aufgetaucht.

      Mit beschatteten Augen blickt Milena zurück: Mein Berg, denkt sie, du Berg meiner Kindheit, meiner Jugend, meiner Geheimnisse! Ob er vom Gelb des Ginsters noch so überschüttet wird wie damals?

      „Mein Berg, Dorf meiner Kindheit ...“ sagt sie laut. Für Slobo ist das ein Befehl. Er zerrt an der Leine und will gehen.

      Ihr Blick streift über die sanften Hügel ringsum. Nackt sind sie jetzt, ohne Zauber. Höfe und Teile der Dörfer, die sich zu ihren Füßen ducken, sind verschwunden. Keine Menschen mehr in der Ebene, die ihren Beschäftigungen nachgehen, kein Bauer in der Wiese, der sein Heu wendet. Die Straßen ohne Ochsengespann, ohne Pferde- und Eselskarren, die sich unter einem Schleier von Staub versteckten.

      Hinter ihr, im Dorf der Mutter, brüllt eine Kuh.

      Ein paar zerschossene Häuser sind, so gut es ging, repariert worden. An wenigen Stellen wird neu gebaut. Männer auf dem Dach, Männer in den leeren Fenstern oder auf dem Platz davor. Ein paar Rufe, Gejohle der Kinder – neugierige und misstrauische Blicke in ihrem Rücken. Das Dorf beginnt zaghaft zu leben. Die schrecklichen Spuren des Kriegs, seine Wunden, müssen beseitigt, müssen ausradiert werden. Wer sich daran macht, der will vergessen, der ist aus einem Albtraum erwacht und hat eine Vision von neuem Leben.

      Die von Einschüssen gesprenkelten Wände der Moschee und das Minarett zeigen leere, verrußte Fenster, weil Feuer gelegt wurde.

      Milena schließt die Augen. Alte Bilder sind wieder da. Aber es sind stumme Bilder, etwas Bedeutsames fehlt: die Geräusche der Kindheit und Jugend, die Gerüche von Frühling und Sommer, vom Herbst, von klarer, schneeiger Luft bei ausgelassenen Spielen. Das Land ist stumm geworden und geruchlos. Was es ausströmt, das ist der Geruch von Krieg und Geschundensein, ist der Geruch des Todes. Einige Male glaubte sie des Nachts in ihrer Kammer Schüsse zu hören, kurze Schüsse weit weg. Sie ist sofort wieder eingeschlafen. Und ihr Bäume! Alt geworden und zerrissen, verwundet wie geschlagene Soldaten! Milena schlingt ihre Arme um eine halb weggeschossene Linde.

      Es war an einem der ersten Abende. Sie saßen nach dem Abendbrot um den Tisch. Milena hat zum wiederholten Male von Amerika erzählen müssen; und wieder war die Mutter erstaunt und verwundert über das, was sie doch kannte. Sie sahen nach dem Feuerschein, der aus der offenen Ofentür zuckte, da begann die Mutter zu reden: davon, dass der Tod nicht nur ringsum sichtbar sei – er lauere auch in der Erde, sagte sie. Mit der Zeit wird er unbemerkt wie ein Engerling hervor kriechen und seine gierigen Kiefer nach allem, was übrig geblieben ist hinstrecken. Auch nach dem unbesorgten, neuen Leben, das heute noch über die Schwelle kriecht.

      Die Mutter schlang die Arme um den Leib, als wäre sie von einem Kälteschauer überfallen worden. Sie blickte eine Weile schweigend in die Flammen, bevor sie weiter erzählte.

      Vor allem wird er weiter nach den Herzen der Menschen langen, sagte sie. Das Sterben habe sich in vielem wie ein Geschwür eingenistet!

      Da irren Menschen durchs Land: Serben, Kroaten, Slowenen, Albaner. Alle auf der Suche nach dem verlorengegangenen Normalen. Auf der Suche nach Sicherheit, nach Nähe, und Geborgenheit in der eigenen Volksgruppe. Völkerscharen irren umher, weil sie nicht mehr wissen, wohin sie gehören. Heimatlose Sucher im Land, das sie einmal ihr Land nannten.

      Andere sind geblieben. Die Zurückkehrenden fragen: ‚Waren wir nicht Nachbarn vor jener Zeit, die uns zerschnitten hat? Lasst uns wieder Nachbarn werden.’

      Du siehst, mein Kind, es ist noch Sehnsucht, noch etwas vom Guten in Köpfen und Herzen. Und hier und da setzt es sich durch, sagte die Mutter. Jedoch belauert und nicht immer verstanden.

      Und hier im Dorf, hat Milena gefragt. Die Mutter machte eine Geste der Resignation.

      „Keine Muslime mehr, keine Albaner. Kein Mensch, der mit einem guten Herzen denkt, denn die Zeit ist noch nicht reif für das Übliche. Darum ist es besser, wenn jeder in diesen unsicheren Zeiten für sich bleibt! Du hast nach der Zukunft der Kinder gefragt. Die Kinder, Milena, ja, was spielen die? Krieg spielen sie, weil sie klar zu wissen meinen, was das Leben, wer der Feind ist. Sie haben es zu Hause gelernt, Rachegedanken zu brüten, jetzt schon! Nein, mein Kind, auch dafür muss die Zeit erst noch

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