Verknotungen Erzählungen. Wilhelm Thöring
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Читать онлайн книгу Verknotungen Erzählungen - Wilhelm Thöring страница 5
Mutter Jettchen sitzt sich in der Küche auf dem weißen Stuhl mit den vielen Kissen. Ihre Hände mit den langen eckigen Nägeln liegen schlaff im Schoß. Das Gesicht streckt sie ein wenig zur Decke, als lausche sie. Manchmal streichelt sie ihre dünnen Arme, als wäre ihr kalt. Ihre Hände verschieben die faltige Haut auf den Knochen, dann legen sie sich wieder auf den warmen Platz zurück.
Oder sie befühlen das Zifferblatt des Weckers, der neben ihr auf der Fensterbank durch die Zeit hetzt.
Neunzehn Uhr dreißig schon?
Vor kurzem hat sie hier bei mir gesessen, wir haben Tee getrunken und sie hat versprochen, mit mir aufs Amt zu gehen!
Vielleicht war das auch gar nicht wahr!
Plötzlich springt Mutter Jettchen auf, als wäre ihr etwas Entscheidendes eingefallen.
Es ist Zeit, dass ich mir das Abendbrot mache.
Eine Tasse voll Suppe aus Haferflocken – mehr braucht sie nicht. Das könnte schon zu viel sein.
Von Tag zu Tag werden ihre Vorräte kleiner. Niemand kommt und füllt sie auf. Mutter Jettchen muss sehr haushalten! Sie muss das, was sie in den Schrankfächern findet, einteilen.
„Was soll’s? Es ist ja alles nichts!“ spricht sie laut gegen die Fensterscheibe. „Aus und vorbei. Wie so vieles im Leben!“
Sie schlürft die Suppe – die wärmt ihren Körper und lässt sie für kurze Zeit auf andere Gedanken kommen.
Es ist stockfinster geworden. In der Kronprinzenstraße sind die wenige Lichter angegangen. Das wenige Licht fällt in eine leere, eine tote Straße. Es bescheint die vernagelten, die verletzten Häuser, die auf den letzten Schlag warten.
Im dritten Hinterhof, in der dritten Etage der Nummer zwölf, sitzt Mutter Jettchen hinter der dunklen Scheibe Stunde für Stunde, Tag für Tag.
Sie geht schlafen, wenn die Müdigkeit endlich gekommen ist. Sie steht auf, wenn sie Lust dazu hat.
Über der Stadt hängt Nebel, der sich von den schwarzen, glänzenden Bäumen kämmen lässt. Er wallt über die Dächer in die Höfe. Er versteckt diese Stadt mit ihren schönen und hässlichen Straßen. Er lässt die Menschen meinen, sie seien allein auf der Welt.
Der Nebel bringt Kälte mit.
Mutter Jettchen, die die meisten Stunden auf dem Küchenstuhl mit den vielen Kissen zubringt, Mutter Jettchen friert. Sie friert so sehr, dass ihre wenigen Zähne aufeinander schlagen, dass sie vor Kälte Schmerzen in den Gliedern bekommen hat. Oder ist es Hunger, den sie seit Tagen nicht mehr gespürt hat. Das Letzte ihres Vorrates ist lange schon aufgebraucht. Das ist gut so, sagte sie sich, dann läuft das Allerletzte schneller ab.
Sie will die Gasröhren im Ofen anzünden. Ihre Hand ritzt geschickt das Streichholz an, gekonnt fährt sie damit einmal an der linken Röhre entlang, dann an der rechten - aus der Backröhre strömt wohlige Wärme. Wie schnell sich die Küche erwärmt! So angenehm, so herrlich ...
Die Wärme macht Mutter Jettchen müde. Sie nickt ein.
Sie weiß gar nicht, wie lange sie auf dem Stuhl geschlafen hat. Sie wird wach, weil die Küche wieder kalt ist.
Mutter Jettchen braucht Zeit, um sich besinnen zu können. Wahrhaftig: vorhin hat sie die Gasröhren angezündet, und jetzt brennen sie nicht mehr! Vorsichtig streckt sie die Hand in die Backröhre. Nichts! Weder links noch rechts spürt sie Wärme. Sie steckt sogar den Kopf hinein – kein Feuer, keine Wärme.
Es gibt kein Gas!
Sie befühlt die Knöpfe am Herd, schaltet hier, dreht da, nichts! Sie prüft den Haupthahn, riecht wieder in die Backröhre hinein – nein, es gibt kein Gas!
Irgendwo sind Reparaturarbeiten nötig geworden, tröstet sie sich. Das kann nicht lange dauern.
Sie wartet, sie prüft abermals – Mutter Jettchen weiß nicht, dass die Kronprinzenstraße gestorben ist. Für diese Häuser wird es nie mehr Gas geben.
Mutter Jettchen befühlt schon lange nicht mehr das Zifferblatt des Blechweckers. Was bedeutet es, wenn ihre Fingerkuppen den Zeiger auf der Sieben finden? Oder auf der zwölf? Von der Zeit will sie nichts mehr wissen. Egal, ob es Morgen oder Abend ist. Völlig egal!
Und eines Tages hat der Wecker aufgehört eilig durch die Zeit zu rennen. Für Mutter Jettchen ist der Wecker gestorben.
Jetzt ist der Tod an ihre Wohnungstür gekommen, wo an der Tür das uralte Messingschild hängt, auf dem er lesen kann: ‚Henriette Bräsicke, Ww’.
Sie spürt, dass er ganz nahe bei ihr ist.
Seinen Tritt spürt Mutter Jettchen nicht auf dem Fußboden. Der Tod geht auf leisen Sohlen.
Er kann aber auch wie ein Tier sein, das im Hinterhalt lauert und irgendwem plötzlich an die Gurgel springt. Das weiß sie.
Für sie wird er nicht wie ein Tier in die Stube springen, für sie nicht!
Aber er ist in ihre Nähe gekommen.
Sie spürt ihn hinter sich, als sie heute Morgen über den leeren, hallenden Hof in ihren Flur zurückgeht.
Gleich nach dem Frühstück tastet sie sich Stufe für Stufe nach unten, beide Hände am Geländer.
Weit stößt sie die Haustür auf, zwei Schritte noch – Mutter Jettchen steht im Freien. Zum ersten Mal nach vielen Monaten, nach Jahren vielleicht, riecht sie frische Luft. Sie wundert sich, dass es im Freien wärmer ist als in der Wohnung. Sie atmet tief, trinkt Fremdgewordenes in sich hinein.
Andächtig steht sie auf der obersten Stufe zum Hof. Richtig feierlich sieht sie aus. Ja, das Geländer ist noch da. Kalt ist es, rau vom Rost. Argwöhnisch tappt sie Stufe für Stufe nach unten. Einmal, vor Jahren, ist sie gestürzt, weil Kinder ihr Spielzeug liegengelassen hatten. Heute liegt nichts mehr im Weg. Es ist alles noch so, wie sie es in Erinnerung hat.
Sie tastet über den Hof. O, sie weiß genau, in welche Richtung sie gehen muss. Ihre Füße sind behutsam wie Fühler von Schnecken. Mutter Jettchen hat die große, zweiflügelige Tür zum zweiten Hof erreicht. Liebevoll betasten ihre Fingerkuppen das Holz. Da ist die Klinke. Die vertraute Klinke zum zweiten Hof. Immer ließ sie sich leicht niederdrücken, heute klemmt sie. Mutter Jettchen hängt sich mit ihrem ganzen Gewicht daran – die Klinke rührt sich nicht.
Vielleicht kann sie die Tür einfach aufstoßen!
Sie lehnt sich dagegen, drückt mit der Hüfte, stemmt den schmächtigen Rücken dagegen – die Tür gibt nicht nach.
Mutter Jettchen ist gefangen!
Mit ihren mageren Fäusten hämmert sie auf die Tür los. Sie fleht, sie weint, sie bittet: Tür, gib doch nach!
Wie ihre Hände schmerzen! Vor lauter Verzweiflung und Ohnmacht beißt sie sich auf die Finger. Sie wischt sich über das heiße Gesicht ... Mutter Jettchen hat zu wild gegen die Tür geschlagen, in ihre Finger gebissen – ihre Hände bluten. Sie beschmiert sich den Pullover, den Rock, das Gesicht. Mutter Jettchen sieht aus, als hätte sie einen furchtbaren Kampf verloren.
Jammernd