Rette sich, wer kann!. Ekkehard Wolf

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Rette sich, wer kann! - Ekkehard Wolf Europakrimi

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dass es unklug war, den versammelten Polizistenköpfen diese Zeit zu geben; denn er wusste aus Erfahrung, dass sich die Phantasie der Ermittler gegen den Häftling zu richten begann, wenn es ihm nicht rechtzeitig gelang, ihre Hirne von der Sinnlosigkeit der ausufernden Phantasie zu überzeugen. Ausgerechnet sein ranggleicher estnischer Kollege, der eigens seinen Urlaub unterbrochen hatte, um den Kollegen aus Deutschland seine Referenz zu erweisen, sprach die erlösenden Worte, die Rogge in seinem Panikanfall nicht in den Kopf gekommen waren.

      „Was redest du da? Wann soll das gewesen sein? Der Kollege aus Deutschland ist vor wenigen Stunden hier eingetroffen. Wie kann er dir da vor Tagen bereits diese merkwürdigen Unterlagen gegeben haben?“

      Aufmerksam registrierte Rogge, wie sein Kollege der kleinen Studentin versuchte, den Schneid abzukaufen. Doch die junge Frau saß in der Falle. Wenn sie jetzt einknicken sollte, musste sie damit rechnen, wegen Verleumdung eines Polizisten und dazu noch eines Polizisten aus einem befreundeten Land zur Rechenschaft gezogen zu werden. So etwas konnte übel ausgehen, nicht nur in Estland. Daher war man stets besser beraten, es sich vorher dreimal zu überlegen, ob die gegen einen Polizisten vorzubringenden Anschuldigungen auch belastbar waren, bevor man sie öffentlich machte. Doch dieser Schritt lag hinter der Studentin. Jetzt nicht einzuknicken war daher die einzige Möglichkeit, der drohenden Sanktion aus dem Weg zu gehen. Aber dazu waren nun eben belastbare Fakten von Nöten und genau diese zu präsentieren zögerte die junge Frau noch einen kurzen Augenblick. Gerade lang genug, um sich dem nahe liegenden Verdacht nicht noch stärker auszusetzen, all das, was jetzt kommen würde, vorab auswendig gelernt und vielleicht sogar geprobt zu haben, gerade kurz genug, um den Ermittlern nicht das Gefühl zu geben, in Wirklichkeit keine belastbare Antwort auf die Frage bereit zu haben.

      „Das wissen Sie doch selbst ganz genau,“ erklärte die Studentin an Rogge gewandt mit fast weinerlicher Stimme. Sie blickte kurz auf, senkte dann den Blick erneut und gab das genaue Datum an. Selbst die ungefähre Uhrzeit fehlte nicht.

      „Das war fast auf den Tag genau vor zwei Wochen,“ gab die junge Frau zu Protokoll, „so ungefähr um 14.30 Uhr. Ich bin gerade vom Mittagessen zurückgekommen, da stand er vor meiner Tür. Wir haben dann so etwa zwei Stunden gebraucht, um die Details durchzugehen. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil ich um 17.00 Uhr bereits wieder zum Tanzkurs musste und daher rechtzeitig los musste.“

      Das war konkret, sehr konkret sogar, wie sich Rogge eingestehen musste.

      „Zum Tanzkurs! Ach wie niedlich.“

      Rogge sprühte vor Sarkasmus, versuchte sich aber zu bremsen.

      „Um die Sache rund zu machen, wäre jetzt eigentlich noch eine Handvoll Zeugen schön, die bestätigen können, dass du mich an diesem Tag tatsächlich getroffen hast.“

      Rogge hatte seinen Sarkasmus noch keineswegs beiseite gelegt. Zugleich zermarterte er sein Gehirn nach der Antwort auf die jetzt unausweichliche Frage. Doch sein Erinnerungsvermögen spielte ihm einen Streich. Er konnte sich partout nicht besinnen, was er an diesem Tag gemacht hatte. Allein, dass er nicht in Estland gewesen war, schien ihm sonnenklar. Während er weiter überlegte, verschaffte ihm die junge Übersetzerin eine kurze Denkpause. Sie war noch nicht fertig mit ihren Ausführungen und legte ein Beweismittel nach. Das war zwar nicht die Handvoll Zeugen, aber immerhin noch zwei und zwar Kommilitonen, die sie zum Tanz angeholt hatten. Selbstverständlich konnte sie deren Namen und Adressen angeben und ebenso selbstverständlich würde es sich hierbei nicht um fiktive Adressen handeln.

      Soviel hatte Rogge inzwischen begriffen.

      Er begriff auch, dass es anfing eng zu werden. Wie eng es tatsächlich bereits war, erfuhr er bereits einige Sekunden später. Das bisher so unschuldige Lämmchen konnte rein zufällig auch noch eine digitale Speicherkarte mit einigen Photos präsentieren. Das Medium wurde in eine Kamera eingesetzt. Ausgerechnet die schöne Luise hatte hier aushelfen können, nachdem die Esten bedauernd mit dem Kopf geschüttelt hatten. Auf einem der Photos war die junge Studentin selbst in dem Moment abgelichtet, als sie lachend vor einem Wohnhaus stand. Neben ihr ein Mann, der eindeutig die Züge Rogges trug. Gemacht worden waren die Aufnahmen angeblich von einer ihrer Kommilitoninnen, die ihr einen Streich spielen wollte, indem sie ihr ein Verhältnis zu einem deutlich älteren Mann nachwies.

      „Rein zufällig“ hatte sie die Aufnahme noch nicht gelöscht und ebenso zufällig hatte sie die Speicherkarte bei ihrer Festnahme in der Hosentasche gehabt. Die Kamera wurde herumgereicht und es bestand eigentlich kein Zweifel. Der Mann neben der blutjungen Studentin war Rogge. Die schöne Luise sah Rogge mit einem Blick an, der ihn irritierte. Der Blick hatte etwas Triumphierendes an sich, so als ob die Profilerin etwas wusste, was hier noch nicht zur Sprache gekommen war. Aber Rogge hatte keine Idee, was das sein konnte. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Grübeln; denn noch viel enger konnte es nun ja wohl nicht mehr werden. Rogge zermarterte sein Gehirn. Wie war das alles möglich? Als ihm schließlich eine Idee kam, wo er sich an diesem Tag aufgehalten haben konnte, traf ihn diese Erinnerung wie eine Keule.

      Er hatte sich tagelang allein in seiner Wohnung aufgehalten, hatte sich von der vorausgegangenen Feier erholt, war nicht ans Telephon gegangen und hatte auch sonst keinerlei Kontakte wahrgenommen.

      Photos oder gar Zeugen dafür hatte er selbstverständlich nicht vorzuweisen.

      Ein noch weniger belastbares Alibi hätte er sich nicht ausdenken können.

      Er verwarf diese Idee und entschied sich spontan zu einer ganz anderen Geschichte.

      Er hatte sich nicht in den eigenen vier Wänden aufgehalten, sondern das verlängerte Wochenende für einen Kurzurlaub genutzt, um sich in Estland umzusehen. Was er dort konkret gesucht hatte, war ja nun klar – es ging ihm um ein wenig Abwechslung. Die hatte er auch gefunden. Sie saß jetzt ihm gegenüber und das nette kleine Photo von ihm und ihr deutete bestenfalls an, welch vergnüglicher Beschäftigung sie zuvor miteinander nachgegangen waren. Allein das war ja noch nicht verboten. Genau dieses Detail aber hatte die kleine Jule wohlweislich unterschlagen und Rogges Phantasie reichte aus, um sich auszumalen, wie sich die Schilderung der Einzelheiten ihres gemeinsamen amourösen Abenteuers hier und jetzt auf die Glaubwürdigkeit der jungen Dame auswirken würde. Spätestens dann, wenn er beiläufig erwähnen würde, was er sich das Vergnügen hatte kosten lassen, würde sie dastehen wie eine kleine Nutte, die sich aus Rache oder nennen wir es enttäuschter Liebe diese haltlosen Beschuldigungen ausgedacht hatte, um ihn zu kompromittieren und zu diskreditieren. Er würde einzuräumen haben, dass das nun ein wirklich blöder Zufall war, ausgerechnet mit dem Mädchen ins Bett gegangen zu sein, das hier nun beschuldigt wurde, terroristische Kurierpost verbreitet zu haben. Aber solche Zufalle gibt es bekanntlich und im nachhinein würde das seiner Geschichte sogar den Anstrich besonderer Glaubwürdigkeit verleihen.

      So, wie es aussah war er nicht so ganz zufällig an die junge Dame hier geraten und - auch das würde er mit süffisantem Unterton einflechten - im Bett hatte er das vollauf bestätigt bekommen. Auch wenn man es diesem kleinen Biest mit der Unschuldsmiene nicht auf den ersten Blick ansah: sie war eine Professionelle, die ihren Job als Reiseleiterin und Übersetzerin vermutlich nur als Sprungbrett nutzte, um Männer und vielleicht auch Frauen (?) ganz gezielt abzugreifen.

      Da sie sich nicht zu schade dafür war, das mit ihm für Geld zu tun, hatte sie es sicher auch mit anderen getrieben. Dass es sich bei der Mehrzahl ihrer Kunden um Deutsche handeln dürfte, ergab sich in naheliegender Weise aus ihrer Übersetzersprache. Als ihr einer ihrer Freier dann auch noch Geld dafür geboten hatte, die Papiere zu übersetzen und zu verteilen, da hatte sie sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen. Dass sie nicht damit gerechnet haben dürfte, deswegen hier einer solch hochnotpeinlichen Befragung unterzogen zu werden, das könne man ihr wohl uneingeschränkt abnehmen. Rogge räusperte sich und blickte betreten in die Runde.

      Kapitel

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