Was zu beweisen wäre. Jürgen Heller

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Was zu beweisen wäre - Jürgen Heller

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style="font-size:15px;">      Sie lacht und nimmt dann seine Bestellung auf, von der Tageskarte das gegrillte Lamm mit Bohnen und Röstkartoffeln. Dazu genehmigt er sich ein Glas Spätburgunder. Christine, genannt Tina, spendiert ihm noch ein Lächeln und entschwindet mit ihrem Supermodelgang. Bruno ist etwas deprimiert. Für dieses knackige Mädchen ist er einfach zu alt, könnte der Vater sein, und seine große Liebe hat ihn heute Nachmittag abblitzen lassen. Die Welt ist schlecht und ungerecht denkt er beim ersten Schluck. Das Essen kommt und er muss ein zweites Glas haben, sonst ist das nicht auszuhalten. Langsam fasst er wieder Mut, schließlich ist seine Carla die schönste und beste Frau der Welt, wenn sie es nur zuließe. Er isst sehr bedächtig und genießt das zarte Fleisch, dass auf den Punkt so gegart ist, wie er es mag. Als er den Teller leergeputzt hat, ist er mit sich und der Welt wieder einigermaßen im reinen. Es gibt eben doch ein Leben außerhalb der Geschlechterbeziehungen. Essen und Trinken als Erotikersatz.

      Er hat das dritte Glas Spätburgunder vor sich stehen, als sich Harry an seinen Tisch setzt. Die Begrüßung zwischen beiden fällt so aus, als hätten sie sich heute schon gesehen. Dabei ist Bruno bestimmt die letzten drei Wochen nicht hier gewesen und Harry verlässt sein Lokal so gut wie nie. Er ruft nach seiner Tochter.

      "Bring mir bitte auch ein Glas."

      "Lange nicht gesehen, alte Socke. Aber Deine Tochter hat dich gut vertreten, habe dich nicht vermisst."

      "Sieht ja auch besser aus als ich. Leider ist sie schon vergeben, an so einen komischen sizilianischen Kauz, studiert irgendwas mit Vulkanologie. Hängt auch ewig am Ätna rum und wertet tage- und wochenlang Daten aus. Aus meiner Sicht brotlose Kunst. Tina würde gerne mit ihm nach Italien gehen aber sie findet dort keinen geeigneten Studienplatz. Zum Glück. Bei den Mafiosi weiß man doch nie."

      Harry haut gerne solche Sprüche raus, dabei hat er jahrelang voller Überzeugung in Kreuzberg gewohnt, ohne dass er je Probleme mit Ausländern hatte. Aber bei Tina gilt eine andere Toleranzgrenze. Die will er in vertrauensvollen und zuverlässigen Händen wissen, man kann fast sagen, das hat schon was türkisches. Tina kann froh sein, das sie nicht noch zwei Brüder hat. Dann Gute Nacht, lieber Sizilianer. Und man muss wissen, Tina hat rein gar nichts von ihrem Vater, jedenfalls äußerlich. Da, wo seine Tochter eine blonde, ziemlich wilde Mähne besitzt, glänzt bei Harry eine Glatze. Die paar Haare, die er noch hat, sind grau. Auch seine Figur und sein Gang sind weit von der Eleganz entfernt, die Tina so gekonnt auf das Parkett bringt. Gegen Harry fühlt sich Bruno schlank und dynamisch, jetzt nach dem dritten Glas mindestens 10 Jahre jünger.

      * * *

       Freitag, 12. April 1955

       War über Ostern bei meinen Eltern in Brixen. Als ich heute morgen zurückkam lag auf dem Tisch meines Zimmers ein Brief, Absender Prof. R.v.C. Er hat mit einem ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter, dessen Doktorvater er war, gesprochen.

       Dr. Rohrmann ist inzwischen Assistent der Geschäftsleitung der Kallmeyer AG und wird mir helfen. Ich solle mich gedulden und unbedingt in den Alpenverein eintreten. Dort würde ich weitere wichtige Leute kennen lernen, insbesondere in der Sektion Oberland.

       Ich werde am Wochenende mit ein paar Freunden ins Wipptal fahren. Wollen dort ein wenig wandern und das schöne Wetter genießen. Ich hoffe, dass mich das ein wenig von meiner Situation ablenkt. Die Ungewissheit ist fast unerträglich und diese Menschen, die helfen sollen, sind mir mit ihrer Vergangenheit ein Gräuel. Wäre ich doch bloß schon angenommen. Mein Vater hat mir erzählt, dass gerade im deutsch-österreichischen Alpenverein sehr früh nationalistische und judenfeindliche Kräfte das Sagen hatten. Mich interessiert das nicht besonders. Ich fürchte nur, dass sich in der heutigen Zeit solcherlei Beziehungen eher negativ auswirken. Aber ich bin auf Unterstützung angewiesen. Nächste Woche werde ich Dr. Rohrmann direkt aufsuchen, er ist noch sehr jung und wird keine Nazivergangenheit haben.

      * * *

      6

      Bruno Hallstein ist den Weg nach Hause zu Fuß gegangen. Jetzt steigt er die zwei Treppen zu seiner Wohnung hoch und ist etwas erstaunt, noch so fit zu sein. Was so ein Spaziergang doch ausmacht. Die Gedanken kreisen noch immer um das junge Mädchen, um Tina. Wie doch die jungen Dinger heranwachsen. Ratzfatz und man ist alt. Der Lack ist ab, wie sein Vater zu sagen pflegte. Noch gar nicht so lange her, da gehörte er selber zu den Jugendlichen, und so ein Mädchen wie Tina hätte er sofort angebaggert.

       Die hätte gar keine Chance gehabt, mir zu entgehen - oder so gut wie keine.

      Irgendwie weiß er aber auch, solche jungen Frauen wie heute, gab es zu seiner Zeit nicht, zumindest hatte er sie nicht kennen gelernt. Die sind heute viel freier, nicht so verklemmt. Sie tragen sich so selbstbewusst zur Schau, ohne dabei billig zu wirken und genau das ist es, was ihn irritiert.

       Denk mal nur an das junge Mädchen mit dem Handy, heute in der U-Bahn.

      Wenn zu seiner Zeit Mädchen so aufgetreten sind, war das Urteil schnell zur Hand: Nutte!

       Wie bekloppt waren wir eigentlich mit achtzehn oder zwanzig? Wahrscheinlich hätte ich mich an so eine wie Tina gar nicht rangetraut...

      Vier Viertel Spätburgunder haben ihn in eine eigenartige Stimmung versetzt, halb Melancholie, halb "Jetzt geht 's los", sozusagen Hybridstimmung. Er kramt in seiner CD-Sammlung und entscheidet sich für Hubert von Goisern und seine Alpinkatzen.

      In der Küche steht noch eine angefangene Flasche Chianti aber sein Blick fällt auf die neue Kaffeemaschine, die er sich erst zu Weihnachten zugelegt hat. Ein echt italienisches Exemplar, sündhaft teuer und für seinen Einpersonenhaushalt völlig überdimensioniert. Aber das ist ihm vor dem schnöseligen Verkäufer scheißegal gewesen. Er stellt eine Tasse zurecht, drückt die Taste für doppelten Espresso und wartet die fauchende Produktion seines Lieblingskaffees ab.

      Hubert und Sabine tragen gerade das traurig schöne "Weit, weit weg von dir" vor und Bruno versinkt in sehnsuchtsvolle Gedanken. Carla wird schon wissen, was sie tut. Wenn sie ihn nicht will - nun, es gibt andere Frauen. Wenn er bloß ein paar Jahre jünger wäre, nur ein paar. Er singt leise mit "heast das nit, wia die Zeit vergeht?" Das mit den Jodeleinlagen lässt er sicherheitshalber weg. "Die Jungen san alt gworn und die Alten san gstorbn..."

      Er entscheidet sich für den Rest Chianti und dabei kommt ihm die Idee. Seine "beste Freundin" Anna anmailen und fragen, ob sie für die nächsten 10 Tage noch ein Zimmer frei hat. Skifahren wäre jetzt das einzig wahre. Sein PC ist tagsüber immer im Stand-by-Modus, da ihn das lange Hochfahren nervt. Bis der Virenscanner seinen Job erledigt hat, vergehen Ewigkeiten und ehe dann alle Dienste gestartet sind und die komplette Graphik aufgebaut ist, dauert es noch mal. Er sollte sich vielleicht auch mal was neues zulegen. Seit er sein Ingenieurbüro aufgegeben hat, hat er nicht wieder in Hardware investiert. Dabei gibt es jetzt so schicke superflache Notebooks im Aluminiumgehäuse...

       [email protected]

       Liebe Anna,

       lange nichts von Dir gehört. Muss Dich unbedingt sehen und träume von einer Skitour. Wenn Du für Deinen lieben Bruno ein Zimmer für 10 bis 12 Tage frei hast, melde Dich bitte. Ich fange schon mal an zu packen.

       Bis bald

       Bruno

      Er

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