Erkläre mir das Leben. Katie Volckx
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Читать онлайн книгу Erkläre mir das Leben - Katie Volckx страница 6
Sie hatte das Schulgelände ohne Fahrrad betreten. Wahrscheinlich war es immer noch im Eimer. Aber Gewissensbisse hatte ich keine. Weil ich an dem verflixten Unfall schlicht und ergreifend nicht schuld war.
Ihre Freundin Inka begrüßte sie überschwänglich, nahm sie fest in die Arme und wog sie dabei hin und her. Daraufhin nahm sie Winters Gesicht liebevoll in die Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Das riss Winter zumindest zu einem flüchtigen Lächeln hin.
Ich überlegte, ob ich zu ihr hinübergehen und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen sollte. Das gebot ja schon allein der Anstand, fand ich. So meldete ich mich bei Niko und meiner neuen Clique kurz ab und tat, was ich tun musste.
Winter sah mich auf sich zukommen, aber das kümmerte sie kaum. Sie warf mir nur einen kurzen, interesselosen Blick zu und sah keinen Grund darin, die Unterhaltung mit Inka zu unterbrechen. Erst als ich sie erreicht hatte, stellte sie das Sprechen ein und funkelte mich verärgert an. Ihr Blick fragte nicht nach einer rationalen Begründung für die Störung, er forderte die rationale Begründung geradezu ein.
»Geht es dir gut?«
Verwundert erwiderte sie: »Seh ich denn so scheiße aus, oder weshalb fragst du?« Ihre Freundin lachte hell auf.
»Ich dachte nur, du hättest dir bei deinem Fahrradunfall vielleicht mehr zugezogen als zunächst angenommen. Du warst ganz schön lange krank.«
»Und wenn? Warum sollte dich das groß interessieren?«
»Nun, ich war daran ja nicht ganz unbeteiligt.«
»Ach, plötzlich siehst du ein, dass du schuld hast?«
»Nein, nein, ich sagte nur, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war. Augen habe ich am Hinterkopf nämlich nach wie vor keine.« Ich wandte meinen Kopf um und fuhr mir durch mein braunes Haar, um es unter Beweis zu stellen.
»Es geht mir gut, danke der Nachfrage.« Sie zupfte ihr weites blaues Top am unteren Saum zurecht. »Aber mein Ausfall hat nichts mit dem Unfall zu tun.« Sie zog das linke Hosenbein ihrer verwaschenen Dreiviertel-Sweathose hoch und legte eine fast verheilte Schürfwunde am Knie frei. »Auch wenn ich noch heute etwas davon habe, wie du sehen kannst.«
Ich erinnerte mich an das viele Blut, das damals durch ihre Leggings gesickert war. »Sieht ja übel aus.«
»Nicht mehr so sehr, wie am Tag des Unfalls.«
Mit den Worten: »Ich warte im Klassenzimmer auf dich« zog sich Inka jetzt zurück. Sie ahnte wohl, dass das Gespräch zwischen Winter und mir länger dauern würde.
»Okay«, erklärte Winter sich einverstanden. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Lass uns doch schon mal dieselbe Richtung einschlagen. Wir können uns auch im Gehen unterhalten.« Sie zog ihre dicke geblümte Umhängetasche über den Kopf ab und drückte sie mir in die Hand. Durch die Dehnübungen mit den Armen, die ihre Schultern lockern sollten, teilte sie mir unmissverständlich mit, dass ich sie bis in das Klassenzimmer für sie tragen sollte. Obwohl ich mir vorkam wie einer ihrer Lakaien, tat ich ihr den Gefallen. So wären wir zumindest quitt.
»Lass das nicht zur Gewohnheit werden.«
»Dass du für mich die Tasche trägst?« Ich nickte bestätigend. Sie lachte gehässig auf. »Um den Fahrradunfall wiedergutzumachen, müsstest du noch weitaus öfter meine Tasche für mich tragen. Aber ich will mal nicht so sein.«
»Sehr gnädig von dir. – Du bist ganz schön überheblich.«
»In Wahrheit bist du der Überhebliche von uns beiden. Denn du meinst, mich zu kennen. Dabei weißt du gerade drei Fakten über mich.«
Ich zählte nach. Und sie hatte recht. War das nur ein Zufall? »Dass du einen irren Namen trägst. Dass Harro dein fester Freund ist. Und dass du fälschlicherweise glaubst, die Königin von Deutschland zu sein.«
»Hast du ein eidetisches Gedächtnis oder warum merkst du dir all die absolut unbestrittenen Informationen über mich?«
Sie hatte Sinn für sarkastischen Humor. Das gefiel mir. Was mir dagegen nicht gefiel, war, dass ich mir ein amüsiertes Grinsen kaum verdrücken konnte. Aber ich wollte auch nicht schon wieder den Coolen raushängen lassen, wenn die Sympathie für sie, die anscheinend in mir zu wachsen begann, einem so penetrant ins Auge sprang. So blieb mir nichts anderes übrig, als ehrlich zu antworten: »Du bist witzig.«
»Hab ich von meinem Vater«, erklärte sie stolz, »und das ist mal eine Info aus erster Hand. Kannst du mir glauben.« Nun folgte auch noch ein neckisches Augenzwinkern.
Mein Herz machte einen Sprung. Ich mochte ihre abgeklärte, problemlose Art. Zu blöd nur, dass ich gedacht hatte, sie wäre eine Oberzicke, denn damit hatte ich mich bei ihr längst unbeliebt gemacht.
»Es muss dich riesige Überwindung gekostet haben, das Kompliment laut auszusprechen.« Winter sollte über eine Ausbildung als Kommissarin bei der Kriminalpolizei nachdenken, und dann sollte man sie hauptsächlich mit Verhören betrauen, denn darin wäre sie Spezialistin. Sie achtete nicht nur auf Mimik und Gestik, sondern war noch dazu gut darin, sie zu entschlüsseln.
»Ging eigentlich. Denn ich war nicht ganz überzeugt von meiner bisherigen Meinung über dich. Die stand nur vorerst.« Jetzt zwinkerte ich ihr vielsagend mit einem Auge zu.
»Die meisten Leute, die ich kenne, tragen bedeutend mehr Stolz und Würde im Leib als du«, gab sie zu verstehen, dass ich mein Fähnlein anscheinend nach dem Winde drehte und mich widerstandslos unterordnete.
»Hab ich schon mit fünfzehn verloren, als ich im tief betrunkenen Zustand halbnackt und völlig orientierungslos die Straßen meiner Nachbarschaft vollgekotzt habe.«
Ich erinnerte mich, als wäre es erst gestern gewesen. Es war die erste und einzige Erfahrung, die ich mit Alkohol durchlitten hatte. Katastrophe! Dabei war das noch nie mein Ding gewesen. Ich hatte nur nicht als elender Versager dastehen wollen, hatte vor allem Luisa, die auf harte Jungs stand, damit imponieren wollen.
»Igitt!«
»Mir ist schon klar, dass ich damit keine Bewunderung bei dir hervorrufe.«
»Also ist es dir wichtig, dass ich dich mag?«
Inzwischen hatten wir das Klassenzimmer von Winter fast erreicht. »Nee, eigentlich nicht.«
»Ach nein?«
»Ich will ja keinen Ärger mit Harro bekommen.«
Bevor sie näher darauf eingehen konnte und als hätte Harro nur auf seinen Einsatz gewartet, kam er auch schon um die Ecke geschlendert. Zielstrebig ging er auf Winter zu und drückte ihr zur Begrüßung einen festen Kuss auf den Mund. Dann legte er einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich heran, um, wie es schien, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Ich konnte erkennen, dass er ihr mit seinem festen Griff wehtat. Doch sie wehrte sich nicht und rang sich ein Lächeln ab, das sie überglücklich zeigen sollte.
»Wer bist du?«, fragte er mit provokanter Stimme. Er mochte es wohl nicht,