Erkläre mir das Leben. Katie Volckx
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Читать онлайн книгу Erkläre mir das Leben - Katie Volckx страница 8
Jule war ebenfalls achtzehn, aber sie besuchte längst nicht mehr die Schule. Sie hatte ihr Abitur geschmissen und machte entgegen aller Kritik eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Gynäkologie. Dafür braucht man kein Abitur, verflucht noch mal, hatte sie vor allem ihren Eltern die Stirn geboten. Aber du könntest wesentlich mehr sein, hatte ihr Vater dagegen argumentiert. Zum Beispiel die Gynäkologin, hm? Mehr! Im Leben geht es immer um mehr, nicht wahr? Ich will aber nicht mehr. Ich will Arzthelferin sein. Das und nichts anderes will ich sein. Nachdem er erkannt hatte, mit welch unermüdlicher Leidenschaft sie ihre Ausbildung durchzog, hatte sich der Vater bei ihr inständig dafür entschuldigt, dass er ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, nicht genug zu sein und ließ sie seither tun, was nicht ihn, sondern sie glücklich machte.
»Sehr verständlich.«
Endlich kam die Bedienung an unseren Tisch und nahm unsere Bestellungen entgegen. Jule hatte keine Lust auf ein Heißgetränk und orderte eine eiskalte Zitronen-Limetten-Limonade. Ich entschied mich für einen Milchkaffee. Mein persönlicher Seelenwärmer, auch wenn draußen tropische Temperaturen herrschten und mir die Schweißperlen auf die Stirn trieben.
»Niko ist deinetwegen leicht angepisst«, ließ sie es ungefiltert heraus, sobald die Bedienung wieder fort war.
»Ach ja? Dabei hat er sich heute in der Schule mir gegenüber ganz normal gegeben.«
»Okay, das wusste ich nicht. Zuletzt habe ich ihn gestern Abend gesehen. Seine Laune war nicht zum Aushalten. Ich habe ihn gefragt, was los sei. Zuerst hat er ein riesengroßes Staatsgeheimnis daraus gemacht. Als ich ihn dann endlich dazu bringen konnte, sich auszusprechen, machte er wiederum eine riesengroße Staatsaktion daraus. Man könnte meinen, er steht zurzeit vor seinen Tagen.« Sie war sichtlich amüsiert. »Ich wollte ihm schon eines meiner Röckchen anbieten.«
Auch ich lachte, denn Niko wurde unwillkürlich Opfer meiner blühenden Fantasie. Zwar kam ich mir dabei schäbig vor, aber die Bilder von ihm im pinken Tutu drängten sich mir förmlich auf. Wie hätte ich da ernst bleiben können?
»Was hat er erzählt?«
»Grob umrissen? Dass du ihm angedichtet hast, er sei in Winter verschossen.«
»Das habe ich auch getan«, bekannte ich mich schuldig im Sinne der Anklage. »Sein Allgemeinverhalten zum Thema Winter Sommer hat mich lediglich irritiert. – Falsche Rücksicht kenne ich nicht, das weißt du.«
Sie nickte zustimmend, während sie sagte: »Ich kenne jedoch die Hintergründe, und ich weiß, dass Niko sich weigert, auch nur ein Sterbenswörtchen über die blöden Geschehnisse zu verlieren. Er glaubt, er könnte sie auf diese Weise hinter sich lassen.«
Was hatte ich verpasst? Offenbar hatte er einmal in einer prekären Lage gesteckt, die eine emotionale Wunde verursacht hatte, die einfach nicht heilen wollte und ihn zwang, sie mit sich zu führen wie eine Bulldogge, die sich in ihn festgebissen hatte und versuchte, ihn totzuschütteln. Wieso hatte er mir nie etwas davon erzählt?
Ich konnte mich vage an eine Phase erinnern – die lag nun anderthalb Jahre zurück –, in der er sich nur selten in Hamburg sehen lassen hatte und Anrufen oder Nachrichten ausgewichen war. Allerdings hatte ich ihm geglaubt, als er es mit familiärem Stress abgetan hatte. Tatsächlich hatten seine Eltern eine Scheidung in Betracht gezogen, sich letztendlich jedoch wieder berappelt gehabt.
»Tja, funktioniert ja astrein!«, scherzte ich mit einem Augenzwinkern.
»Nun, so gesehen funktioniert es schon. Er begegnet Winter zwar ignorant, und trotzdem so, als wäre nie etwas geschehen. Weißt du, was ich meine?« Ja, ich verstand, was sie meinte, denn ich hatte es ja selbst erlebt. Bis gestern Vormittag hatte ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass zwischen ihm und Winter etwas nicht stimmte. Ich hätte ihnen nicht mehr Verbindung als normal zugetraut. »Bis auf Harro. An ihm kann er kaum vorbeigehen, ohne bald zu explodieren. Das ist ziemlich anstrengend auf Dauer. Für alle Beteiligten. Wir können von Glück reden, dass sie nicht in dieselbe Klasse gehen. Das käme einer Katastrophe gleich, sag ich dir. Erstaunlicherweise ist Harro sehr bemüht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich hat Winter ihn dazu angehalten. Ja, wahrscheinlich ist es sogar eine Bedingung. Denn Winter weiß genau um Nikos Wut. Aber es ist ja nicht an Niko, sich unter Kontrolle zu halten. Es ist ganz allein an Harro. Und wenn der feine Herr es sich nicht mit Winter verscherzen will, hat er sich wohl oder übel zu beweisen.«
Ich war dankbar für die Informationen, die Jule nun so frei und offen auf den Tisch legte, ja, auch wenn sie mehr Fragen aufwarfen als beantworteten.
Die Bedienung unterbrach uns, indem sie unsere bestellten Getränke an den Tisch brachte. Sie lächelte freundlich, als sie uns wieder verließ.
Und ich fuhr fort: »Aber liegt das Problem nicht schon eine halbe Ewigkeit zurück und ist somit verjährt?« Nur ungern stellte ich mich auf Harros Seite, aber was konnte schon so krass sein, dass man ihm auch noch anderthalb Jahre später einen Fehler nachtrug? Was war so krass, dass man sich auch noch nach anderthalb Jahren zusammennehmen musste, um ihm nicht an die Gurgel zu gehen?
»Das tut es. Aber solange sie sich der Schule wegen regelmäßig begegnen, wird das alles nie abkühlen. Alles fühlt sich so verdammt frisch an. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das mit Harro und Winter überhaupt Zukunft hat. Ich bin ja der Meinung, dass sie die Beziehung nur künstlich am Leben erhalten.«
Sieh mal einer an, von wegen beliebtes Paar. Offensichtlich spielten sie nur eine Show, eigentlich nicht einmal eine gute. Alles nur Schein. Litt hier denn jeder unter Schwarzen Star oder warum bekam niemand etwas von der seltsamen Allgemeinstimmung mit?
»Wofür das denn?«, wollte ich nur zu gern wissen.
»Für die Eltern. Denn die sind mit dem jeweiligen Partner ihres Kindes vollauf zufrieden. Auch nur, weil sie von dem ganzen Drama nichts wissen. Das alles blieb unter den Betroffenen.«
»Wie geht das denn? Ich bin immer davon ausgegangen, Stoff wie dieser macht auf dem Dorf irre schnell die Runde?«
Jule lachte auf. »Ich verstehe, du kennst die Gesetze eines Dorflebens noch nicht.« Sie nahm einen Schluck von ihrer Limonade und gab ein befriedigtes »Aaah« von sich. »Guck mal, natürlich wird geredet und gelästert. Und ja, einzig logisch wäre, dass auch dich irgendwann der Klatsch und Tratsch über deine Person erreicht. Aber so ist es nicht. Sie machen Halt vor dem Betroffenen. Wenn sie wüssten, dass deine Frau gerade mit Bauer Alfons-Stefan Ehebruch begeht, würden sie dir ins Gesicht lächeln und dich glauben lassen, alles sei in bester Ordnung.«
»Was haben sie davon?« Ich war ernsthaft schockiert.
»Nichts. Rein gar nichts. Sie sind einfach nur feige, wollen sich in nichts reinziehen lassen.«
»Das verstehe wer will. Ich meine, das grenzt schon fast an Perversion.« Ein wenig hatte ich mich ja schon an das Leben hier gewöhnt(die Schule war mir dabei eine große Hilfe gewesen), aber auf diese kranken Manieren konnte ich gut und gerne verzichten.
»Wir könnten es psychologisch analysieren, aber das würde leider auch nichts daran ändern. An ihnen, meine ich.«
»Wohl wahr.« Ich hatte meinen Milchkaffee fast auf, als mir einfiel: »Ich hoffe, du bekommst keinen allzu großen Ärger mit Niko, weil du mir ein paar Informationen geliefert hast.«
Sie machte große, mitleiderregende Augen. »Da kämen wir auf