Der Rote Kolibri. Alexander Jordis-Lohausen
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„Ja, sicher ist es ungerecht, Sebastian. Aber die Welt ist nun mal ungerecht! Daran musst du dich gewöhnen.“ Ich blickte zu ihm hinauf, als er mir mit der Hand über den Kopf fuhr, und sah gerade noch sein wütendes Gesicht, bevor er sich abwendete.
Stumm schritt Vater dem kleinen Trupp voran, der durch die Felsen zum Dorf hinab zog. Vielleicht war er noch wütend, vielleicht aber auch froh, jenes Scheusal mit dem Stechrüssel eine Weile nicht mehr sehen zu müssen und von dem bösen Geist, der ihn beseelte, nicht angesteckt worden zu sein. Oder war er es doch? Oder war ich es vielleicht? Ich hatte Schwierigkeiten alles, was ich erlebt hatte, aus meinen Gedanken zu verscheuchen!
Die ersten Windstöße fegten über das Dorf hinweg und prallten gegen die Felsen. Der Himmel hatte sich verdüstert und über dem Meer zog der Sturm auf. Die Frauen hatten während unserer Abwesenheit die Netze geflickt und abgenommen. Jeder zog sich jetzt in seine Hütte zurück und machte Fenster und Türen dicht.
Als es draußen stürmte und tobte, saßen wir wohlig warm und trocken in unserer Hütte vor dem Kamin und Mutter erzählte uns das uralte Märchen vom Fischer und seiner Frau.
Lebensentscheidungen
War ich wirklich angesteckt worden? Vielleicht. Jedenfalls hatte sich meine Welt seit jenem ersten Besuch auf dem Markt verändert. Das Wissen um das Böse, das man meinem Vater angetan hatte, und um die Ungerechtigkeit, die uns allen widerfuhr, und der wir scheinbar hilflos ausgeliefert waren, bohrte in meinem Inneren fort. Das Leben hatte plötzlich eine hässliche Seite bekommen.
Es staute sich im Laufe der Zeit eine ohnmächtige Wut in mir an. Diese Wut ließ einen Hass in mir anwachsen, der an meinen Herzen fraß und mich veränderte. Das kindliche Vertrauen und die Freude am Leben wich mehr und mehr einer Rachelust gegenüber an all denen, die meine glückliche, freudige Welt zerstört hatten. Ich konnte mir nur noch Luft machen, indem ich mir unter heiligen Schwüren all das ausmalte, was ich Zeck und seinen Gesellen antun würde, wenn ich erst einmal groß geworden wäre. Ich würde ihre Häuser zerstören, ihre Schiffe verbrennen und sie selbst auf die grausamste Art und Weise zu Tode foltern. Dabei musste ich immer an den Dolch mit dem Elfenbeingriff denken.
Da ich außer dem Markt in der Stadt nichts anderes von der Außenwelt kannte, bestand mein Weltbild aus zwei Teilen: das Dorf war die gute Welt und alles, was außerhalb davon lag, war schlecht und musste bekämpft werden. Dass es vielleicht auch woanders gute Menschen gäbe, dämmerte mir erst später.
Da weder mein Vater noch meine Mutter, die mich weiterhin mit Liebe umgaben, zu verstehen schienen, was in mir vorging, zog ich mich mehr und mehr in mich zurück. Je älter ich wurde, desto weniger war ich mir sicher, ob die Fischer sich wirklich gegen die Ungerechtigkeit der Welt gewehrt hätten, wäre es ihnen möglich gewesen. Mehrmals hatte ich versucht mit Vater darüber zu sprechen, ihn gefragt, warum er sich nicht räche, aber mit wenig Erfolg. „Was hilft uns das?“ hatte er nur gesagt. „Jeder muss sein Schicksal leben, so gut er kann!“ erwiderte mir der Dorf-Älteste einmal.
Aber das genügte mir nicht. Was heißt, „so gut er kann“? Heißt das nicht auch, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich gegen erlittenes Unrecht zur Wehr setzen?
Erst viele Jahre später kam mir in den Sinn, dass die Fischer, indem sie ihr Schicksal annahmen, wie es war, sich vielleicht davor schützen wollten, genauso zu werden wie Zeck. Aber damals sah ich das anders. So wurden sie mir alle immer fremder, sogar meine Eltern. Ich wurde immer mehr davon überzeugt, dass mir die Aufgabe des Gerechtigkeitsmachers zugedacht war, und dass ich mich darauf vorzubereiten hätte. Wie oft habe ich damals verflucht, nicht älter zu sein, nicht ernst genommen zu werden, nicht die Mittel zu haben, all das in die Tat umsetzen zu können, was mir fast den Kopf sprengte. Ich war entschlossen mir diese Mittel zu verschaffen, auf welche Weise auch immer. Ich lebte nun nicht mehr glücklich in der Gegenwart, sondern verbittert in der Zukunft.
Als ich größer wurde, nahm auch ich an den nächtlichen Fischzügen teil. Damals habe ich mich mit einem Fischer angefreundet, der Ivo hieß. Mein Vater hatte mir den Umgang mit Ivo nie verboten, aber ich fühlte, dass er es nicht sehr schätzte, wenn ich zu oft mit ihm zusammen war. Ich kümmerte mich nicht darum, denn gerade Ivo schien mir viel zugänglicher und verständnisvoller zu sein als die anderen Fischer. Bei ihm konnte ich noch am ehesten ein offenes Ohr finden und meiner Wut über Zeck und seine Genossen Luft machen.
Während einer der Markttage, die ich als immer unannehmbarer erlebte und die jedes Mal meinen Hass und damit meine dunklen Absichten erneut anfachten, hatte mich Ivo mitgenommen, als er nach den Marktgeschäften in einer der Hafenkneipen Halt machte.
“Zur goldenen Hölle“ hieß der verrufene Ort. Er lag im Stadtviertel du Panier direkt am Hafen vom Marseille, genau gegenüber der alten Basilika des Heiligen Viktor, des Schutzherrn der Seeleute. Ich hatte schon so manches über die „Hölle“ munkeln hören. Doch als wir eintraten, sah dort alles viel nüchterner aus, als ich es mir in meiner blühenden Phantasie ausgemalt hatte. Jahrhundertealte durch Kaminruß und Tabakqualm geschwärzte Balken unter einer niedrigen Decke, einfache, grobe Holztische und Holzstühle -- nichts was dem Verruf des Ortes gerecht zu werden schien. Es stank nach abgestandenem Wein und billigem Schnaps. Der ebenso verrufene „Höllenwirt“ sah auch eher sympathisch aus. Er hatte sogar ein paar freundliche Worte für mich, als ich ihm vorgestellt wurde. Seine große hagere Gestalt mit den zerfurchten Gesichtszügen und den lebendigen dunklen Augen hätte mir vielleicht Angst eingeflößt, wenn nicht ein spöttisches, fast komplizenhaftes Lächeln um seinen schmalen Mund gespielt hätte. Er schien Humor und Verständnis zu haben.
„Das ist also der junge Rebell!“ sagte er. „Ich habe schon von dir gehört.“
Ich stand da, schweigend wie ein Stockfisch. Was hätte ich auch sagen sollen, bisher hatte noch niemand verstehen wollen, was ich empfand. Daher war ich erstaunt, als der Höllenwirt noch hinzufügte: „Wenn du dich mal aussprechen willst, komm mich ruhig besuchen.“ Ich nickte nur, denn die beiden Männer hatten sich schon in eine leise Unterhaltung vertieft, von der ich wenig verstand. Als Ivo sein Glas geleert hatte und wir wieder in der frischen Luft des Hafens waren, wollte ich ihn über den Höllenwirt ausfragen, aber er blieb einsilbig.
Ivo war auch der Erste, der mir von Schmugglern und Seeräubern erzählte. Schaurige Geschichten von nächtlichen Zusammenkünften, von Draufgängertum und Tapferkeit, von wilden, grausamen Schlachten, von Geheimnissen und vergrabenen Schätzen. All das waren Geschichten, die zu meinen geheimen Absichten passten. Und so kam es, dass langsam in meinem Kopf die Überzeugung Gestalt annahm, dass für mich das Seeräuberdasein, das einzige Mittel sei, mich an unseren hochmütigen Ausbeutern zu rächen und damit vielleicht nicht nur den Fischern, sondern auch vielen anderen zu Gerechtigkeit zu verhelfen.
Aber wie zu diesem Ziel gelangen? Ivo, dem ich einmal versucht hatte, meine Ideen auseinanderzusetzen, widersprach mir nicht, wollte aber auch nicht näher auf sie eingehen.