Die Erziehung der Gefühle. Gustave Flaubert
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»Selbstverständlich kein Wort davon bei Arnoux!«
Es war leicht, es geheim zu halten, da Arnoux am nächsten Tage eine Reise nach Deutschland unternahm.
Abends bei seiner Rückkehr fand der Schreiber seinen Freund seltsam verändert: er tänzelte, pfiff, und als Deslauriers sich über diese Laune wunderte, erklärte Frédéric, daß er nicht zu seiner Mutter ginge, sondern die Ferien zum Arbeiten benutzen wolle.
Bei der Nachricht von Arnoux’ Abreise überkam ihn große Freude. Er konnte sich jetzt dort einstellen, ganz nach Belieben und ohne Furcht, bei seinen Besuchen gestört zu werden. Das Bewußtsein einer absoluten Sicherheit würde ihm Mut verleihen. Endlich würde er nicht fern, nicht getrennt von ihr sein! Stärker als durch eine eiserne Kette war er an Paris gefesselt, eine innere Stimme rief ihm zu, zu bleiben.
Hindernisse stellten sich ihm entgegen. Er überwand sie, indem er seiner Mutter schrieb; er gestand ihr zunächst seine Schlappe, die durch Änderungen im Programm verursacht worden – durch einen Zufall, eine Ungerechtigkeit – übrigens wären alle großen Advokaten (er zitierte ihre Namen) im Examen durchgefallen. Aber er hätte die Absicht, sich im November nochmals zu melden. Da er jedoch keine Zeit zu verlieren habe, käme er in diesem Jahre nicht nach Haus und bitte außer um das Quartalsgeld um zweihundertundfünfzig Francs für die sehr nützlichen Repetitionen in der Rechtskunde, – das ganze mit Bedauern, Trauer, Schmeicheleien und Beteuerungen kindlicher Liebe verbrämt.
Madame Moreau, die ihn am nächsten Tage erwartete, war doppelt bekümmert. Sie hielt den Mißerfolg ihres Sohnes geheim und antwortete ihm, er möge dennoch kommen. Frédéric gehorchte nicht. Ein Streit entspann sich. Am Ende der Woche jedoch erhielt er das Quartalsgeld, wie auch die für die Repetitionen bestimmte Summe, die dazu diente, eine perlgraue Hose, einen weißen Filzhut und ein tomatenrotes Spazierstöckchen zu bezahlen.
Als all dieses in seinem Besitz war, dachte er:
»Ich habe da vielleicht eine rechte Friseur-Idee gehabt.«
Und eine große Unerschrockenheit erfaßte ihn.
Um zu wissen, ob er zu Madame Arnoux gehen sollte, warf er dreimal Geldstücke in die Luft. Jedesmal war das Vorzeichen günstig. Also, das Schicksal selbst gebot es. Er nahm eine Droschke und fuhr nach der Rue Choiseul.
Lebhaft stieg er die Treppen hinauf und zog an der Klingelschnur; es läutete nicht; eine leise Schwäche überkam ihn.
Dann riß er wütend an der schweren, roten Seidenquaste. Eine Glocke ertönte, verstummte allmählich, und es war wieder nichts zu hören. Frédéric wurde ängstlich.
Er drückte sein Ohr an die Tür; kein Laut! Er legte das Auge ans Schlüsselloch, bemerkte aber im Vorzimmer nichts als zwei Schilfspitzen zwischen Papierblumen an der Wand. Schließlich wollte er umkehren, besann sich aber eines besseren. Diesmal klingelte er nur ganz leise. Die Tür öffnete sich und auf der Schwelle erschien mit zerzaustem Haar, karmoisinrotem Gesicht und verdrießlicher Miene Arnoux selbst.
»Was, zum Teufel, führt Sie her? Treten Sie ein!«
Er führte ihn hinein, aber nicht in das Boudoir oder sein Zimmer, sondern in den Speisesaal, wo auf dem Tisch eine Champagnerflasche und zwei Gläser standen, und in barschem Ton sagte er:
»Sie wollen mich etwas fragen, lieber Freund?«
»Nein, nichts! nichts!« stotterte der junge Mann und suchte nach einem Vorwand für seinen Besuch.
Schließlich sagte er, daß er gekommen wäre, um von ihm zu hören, da er ihn nach einem Bericht von Hussonnet auf einer Reise in Deutschland wußte.
»Keineswegs!« erwiderte Arnoux. »Welch ein Strohkopf ist dieser Bursche, alles verkehrt zu hören!«
Um seine Unruhe zu verbergen, ging Frédéric von rechts nach links durch den Saal. An den Fuß eines Stuhles stoßend, warf er einen Sonnenschirm herunter, der darauf lag; der Elfenbeingriff zerbrach.
»Mein Gott!« rief er, »wie bedauere ich, Madame Arnoux’ Sonnenschirm zerbrochen zu haben.«
Bei diesen Worten hob der Kaufmann den Kopf mit einem seltsamen Lächeln. Frédéric benutzte die Gelegenheit von ihr zu sprechen und sagte schüchtern:
»Könnt ich sie nicht sehen?«
Sie war in ihrer Heimat, bei ihrer kranken Mutter.
Er wagte nicht, über die Dauer ihrer Abwesenheit Fragen zu stellen. Er erkundigte sich nur, welches die Heimat Madame Arnoux’ war.
»Chartres! Das überrascht Sie?«
»Mich? Nein! Warum? Nicht im geringsten!«
Sie hatten sich nun absolut nichts mehr zu sagen. Arnoux, der sich eine Zigarette gedreht hatte, ging pustend um den Tisch herum. Frédéric stand am Ofen, betrachtete die Wände, die Etagere, das Parkett, und reizende Bilder zogen in seiner Erinnerung, fast an seinen Augen vorüber. Endlich ging er.
Ein Stück Zeitungspapier, zu einer Kugel zusammengeballt, lag im Vorzimmer auf dem Boden. Arnoux nahm es auf, hob sich auf die Zehen und steckte es in die Klingel, um seine unterbrochene Siesta fortzusetzen, wie er erklärte. Dann sagte er mit einem Händeschütteln:
»Sagen Sie, bitte, dem Hausmeister, daß ich nicht hier bin!«
Und heftig schloß er dicht hinter ihm die Tür.
Frédéric stieg Schritt für Schritt die Treppe hinunter. Der Mißerfolg dieses ersten Versuchs entmutigte ihn im voraus für die anderen. Nun begannen drei Monate der Langeweile. Da er keine Arbeit hatte, steigerte der Müßiggang seine Schwermut.
Er verbrachte Stunden damit, von seinem Balkon oben auf den Fluß hinunterzuschauen, der von Ort zu Ort zwischen graufarbigen geschwärzten Quais dahin floß, über die Rinnen der Abflußröhren, einen am Ufer verankerten Wäscherinnenkahn, worin Gassenjungen sich zuweilen damit belustigten, in einer Wanne einen Pudel baden zu lassen. Sein Blick streifte links die Steinbrücke von Notre-Dame, richtete sich aber immer wieder auf den Quai aux Ormes, auf eine Gruppe alter Bäume, die den Linden im Hafen von Montereau glichen. Der Turm Saint-Jacques, das Stadthaus, Saint-Gervais, Saint-Louis, Saint-Paul erhoben sich vor ihm zwischen einem Gewirr von Dächern, – und der Genius der Juli-Säule glänzte im Osten wie ein großer goldener Stern, während an der andern Seite der Dom der Tuilerien seine schwere blaue Masse scharfumrissen auf den Himmel zeichnete. Dahinter, auf dieser Seite mußte das Haus Madame Arnoux’ liegen.
Er trat in sein Zimmer zurück; dann, auf seinen Diwan hingestreckt, überließ er sich einem unklaren Nachdenken über Arbeitspläne, Vorsätzen für sein Verhalten, Zukunftsträumen. Schließlich ging er aus, um sich von all dem zu befreien.
Zufällig kam er durch das sonst so lärmende, zu dieser Zeit aber, da die Studenten zu ihren Familien gereist waren, verödete Quartier latin. Die hohen Mauern der Institute hatten, wie durch die Stille verlängert, ein noch viel düstereres Aussehen. Man vernahm allerlei friedliche Geräusche, Flügelschlag in Vogelkäfigen, das Knarren einer Drehbank, den Hammer eines Schuhflickers; und die Kleiderhändler mitten auf der Straße sandten vergebens fragende