Die Erziehung der Gefühle. Gustave Flaubert
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Einigemal trieb ihn die Hoffnung auf eine Zerstreuung auf die Boulevards. Durch dunkle Gäßchen, die eine feuchte Frische ausdünsteten, gelangte er auf große, öde, von Licht geblendete Plätze, wo die Monumente am Rande des Pflasters schwarzes Schattenzackenwerk zeichneten. Aber die Karren, die Läden kehrten wieder, und die Menge betäubte ihn – zumal des Sonntags – wenn von der Bastille bis zur Madeleine ein ungeheurer Strom inmitten von Staub und ununterbrochenem Getöse auf dem Asphalt dahinflutete; er fühlte sich angewidert von der Gemeinheit der Gesichter, der Albernheit der Gespräche, des einfältigen Behagens, das auf den schweißigen Stirnen stand. Allein das Bewußtsein, mehr zu gelten als diese Menschen, verminderte seine Qual, sie zu sehen.
Er ging täglich in die Kunsthandlung; und um zu erfahren, wann Madame Arnoux zurückkehren werde, erkundigte er sich umständlich nach ihrer Mutter. Die Antwort Arnoux’ blieb immer die gleiche, »die Besserung schreite fort, seine Frau würde mit der Kleinen in der nächsten Woche zurückkommen«. Je länger sie zögerte, heimzukehren, desto mehr Unruhe verriet Frédéric, so daß Arnoux ihn, von soviel Liebe gerührt, fünf- oder sechsmal ins Restaurant zum Essen mitnahm.
Frédéric erkannte in diesen langen Zwiegesprächen, daß der Kunsthändler nicht sehr geistreich war. Doch Arnoux konnte diese Abkühlung bemerken; so benutzte er denn die Gelegenheit, seine Aufmerksamkeiten zu erwidern.
Da er seine Sache sehr gut machen wollte, verkaufte er bei einem Trödler all seine neuen Anzüge für die Summe von achtzig Francs, und nachdem er hundert dazu gelegt hatte, die ihm noch geblieben waren, ging er zu Arnoux, um ihn zum Diner einzuladen. Regimbart war gerade bei ihm, und sie gingen in die Trois-Frères-Provençaux.
Der Citoyen legte seinen Überrock ab, und der Willfährigkeit der beiden anderen gewiß, stellte er den Speisezettel zusammen. Aber obwohl er sich in die Küche begab, um selber mit dem Küchenchef zu sprechen, in den Keller hinunterstieg, wo er jeden Winkel kannte, den Wirt des Etablissements heraufkommen ließ, dem er einen Rüffel gab, war er weder mit den Speisen, den Weinen, noch mit der Bedienung zufrieden! Bei jeder neuen Platte, bei jeder weiteren Flasche ließ er beim ersten Bissen, beim ersten Schluck seine Gabel fallen oder stieß sein Glas weit von sich; dann schrie er, sich mit der ganzen Länge seiner Arme auf das Tischtuch stützend, daß man in Paris nicht mehr dinieren könne! Schließlich bestellte sich Regimbart, der nicht mehr wußte, was er für seinen Gaumen ausdenken sollte, Bohnen in Öl, »ganz einfach«, die ihn, halbwegs gelungen, ein wenig besänftigten. Darauf hatte er mit dem Kellner ein Gespräch, das sich um alte Kellner der »Provençaux« drehte: »Was ist aus Antoine geworden? Und aus einem namens Eugène? Und Théodore, dem Kleinen, der immer unten bediente? Damals war die Kost hier immer ausgezeichnet und es gab Kalbskopf in Burgunder, wie man ihn niemals wiedersehen wird!«
Darauf kam die Rede auf den Wert von Terrains im Vorort, eine unfehlbare Spekulation Arnoux’. Im Abwarten verlor er allerdings seine Zinsen. Da er nicht zu jedem Preis verkaufen wollte, sollte Regimbart ihm jemanden ausfindig machen, und die beiden Herren machten bis zum Ende des Desserts mit einem Bleistift Berechnungen.
Dann gingen sie in die Passage du Saumon, in ein Wirtshaus im Zwischenstock, um den Kaffee zu nehmen. Frédéric wohnte stehend endlosen, von unzähligen Schoppen befeuchteten Billard-Partien bei; – und er blieb bis Mitternacht da, ohne zu wissen warum, aus Feigheit, aus Dummheit, in der dunklen Hoffnung irgendeines seiner Liebe günstigen Ereignisses.
Wann würde er sie wiedersehen? Frédéric war in Verzweiflung. Aber eines Abends, gegen Ende November, sagte Arnoux zu ihm:
»Meine Frau ist gestern zurückgekehrt!«
Am nächsten Tage, um fünf Uhr, trat er bei ihr ein.
Er fing damit an, sie ihrer Mutter wegen zu beglückwünschen, deren Krankheit so ernst gewesen war.
»Aber nein! Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Arnoux!«
Ihr entschlüpfte ein kleines »ah«, dann fügte sie hinzu, daß sie anfangs ernste Befürchtungen gehegt, die jetzt geschwunden seien.
Sie saß dicht am Kamin auf dem gestickten Lehnsessel, er mit dem Hut zwischen den Knien auf dem Sofa, und die Unterhaltung war mühsam, sie ließ ihn jede Minute im Stich; er fand nicht die Gelegenheit, seine Gefühle auszudrücken. Aber als er sich beklagte, Rechtsverdrehung studieren zu müssen, erwiderte sie: »Ja… ich verstehe… Geschäfte…!« indem sie, plötzlich in Nachdenken versunken, das Gesicht senkte.
Ihn verlangte danach, ihre Gedanken zu kennen, und er dachte an nichts anderes mehr. Die Dämmerung verdichtete den Schatten um sie her.
Sie erhob sich, da sie einen Gang zu machen hatte, erschien dann wieder in einer Samtkapuze und einem schwarzen, mit Grauwerk verbrämten Mantel. Er wagte, ihr seine Begleitung anzubieten.
Man konnte nicht mehr sehen; das Wetter war kalt, und ein dichter Nebel, der die Fassaden der Häuser verwischte, verpestete die Luft. Frédéric atmete sie mit Wollust, denn er fühlte durch die Wattierung des Mantels die Form ihres Armes; und ihre Hand in einem zweiknöpfigen Wildlederhandschuh, ihre kleine Hand, die er mit Küssen hätte bedecken mögen, stützte sich auf seinen Arm. Auf dem schlüpfrigen Pflaster glitten sie ein wenig aus; ihm war, als würden sie beide inmitten einer Wolke vom Winde gewiegt.
Der Glanz der Lichter auf dem Boulevard versetzte ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Gelegenheit war günstig, die Zeit drängte. Er verschob es bis zur Rue de Richelieu, seine Liebe zu erklären. Aber bald darauf blieb sie mit einemmal vor einem Porzellangeschäft stehen, indem sie zu ihm sagte:
»Da sind wir, ich danke Ihnen! Auf Donnerstag, nicht wahr, wie gewöhnlich?«
Die Diners begannen wieder, und je öfter er Madame Arnoux besuchte, desto stärker wurde sein Sehnen.
Der Anblick dieser Frau entnervte ihn wie der Gebrauch eines zu starken Parfüms. Sein ganzes Wesen war davon erfüllt, es wurde fast zu einer Manie, einem neuen Lebensinhalt.
Die Prostituierten, denen er beim Licht der Gasflammen begegnete, die Sängerinnen, die ihre Läufe herausschmetterten, die Reiterinnen auf ihren galoppierenden Pferden, die Bürgerinnen zu Fuß, die Grisetten an ihren Fenstern, alle Frauen erinnerten ihn durch Ähnlichkeiten oder starke Gegensätze an die eine. Er sah sich in den Läden die Kaschmirs, die Spitzen und die Ohrgehänge von Juwelen an, indem er sie sich um ihre Hüften geschlungen, an ihr Mieder genäht, in ihrem schwarzen Haar funkelnd vorstellte. In den Blumenläden entfalteten sich die Blüten nur, um im Vorübergehen von ihr gewählt zu werden. Die kleinen Seidenpantöffelchen, mit Schwanenpelz umrändert, in den Auslagen der Schuhhändler schienen nur auf ihren Fuß zu warten; alle Straßen führten zu ihrem Hause. Die Wagen standen nur auf den Plätzen, um schneller hinzugleiten; ganz Paris bezog sich auf ihre Person, und die große Stadt mit all ihren Stimmen umbrauste wie ein ungeheures Orchester nur sie.
Ging er in den Jardin des Plantes, so versetzte der Anblick einer Palme ihn in ferne Länder. Sie reisten miteinander auf dem Rücken von Dromedaren, unter Zelten, die von Elefanten getragen wurden, in der Kabine einer Yacht durch ein blaues Inselmeer, oder Seite an Seite auf zwei schellentragenden Maultieren, die auf dem Gras über zertrümmerte Säulen stolperten. Zuweilen blieb er im Louvre vor alten Bildern stehen, und da seine Liebe zu ihr selbst entschwundene Jahrhunderte umfaßte, identifizierte er sie mit Personen der Bilder. Mit einem spitzen Frauenkopfputz betete sie auf den Knien hinter in Blei gefaßten Scheiben. Als Edeldame von Kastilien oder Flandern