Der Waldläufer. Gabriel Ferry
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Die Stunde war ebenso günstig verliebten wie ernsten Gedanken, und die einen und die anderen überwogten den Geist Tiburcios. Wie alle, die in der Einsamkeit gelebt haben, besaß sein Herz einen Schatz träumerischer Poesie, die sich bei ihm mit der tatkräftigen Energie des Mannes verband, für den diese Einöde mit Gefahren angefüllt ist. Seine gegenwärtige Lage stand somit in Wechselwirkung mit dieser zwiefachen Fähigkeit. Seine Liebe war bedroht – die Kälte Dona Rosaritas sagte es ihm klar genug —, und ein Vorgefühl ließ ihn auch erkennen, daß er von Feinden umgeben sei. Mitten in der Traurigkeit seiner Seele zog ein wirkliches Ereignis seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Lichtglanz blitzte fern unter dem Laubdach des Waldes. Dieser Lichtglanz, ein wenig durch die Klarheit des Mondes verdunkelt, zitterte geheimnisvoll durch die schwankenden Zweige, blieb aber wirklich auf einem Punkt. Er bewies also, daß Reisende dort übernachteten. »So nahe bei der Hacienda?« sagte er sich, indem er bei diesem Anblick seinem Nachdenken ein Ende machte. »Was soll das heißen? Warum kommt man nicht hierher und bittet um gastliche Aufnahme? Die Reisenden haben also einen Grund, sich fernzuhalten? Sind es Feinde, die ich zu den meinigen hinzuzählen muß? Gehören sie vielleicht zu jenen unbekannten Freunden, die der Himmel zuweilen denen schickt, die ihrer bedürfen? Cuchillo, Don Estévan, dieser anmaßende Senator sind ebenso viele Feinde für mich! Alle haben Schutz gefunden unter diesem Dach; warum sollten diese Menschen nicht Freunde sein?«
Unterdes verging die Zeit; Tiburcio nahm seinen Zarapa und hüllte sich hinein, steckte sein Messer in den Gürtel – es war die einzige Waffe, die er besaß – und machte sich bereit, ohne Geräusch hinauszugehen, mit pochendem Herzen wie ein Mann, über dessen Glück wenige Minuten entscheiden sollen. Ehe er sein Zimmer verließ, warf er noch einen Blick auf den hellen Punkt, der immer an derselben Stelle glänzte. Während Tiburcio mit lauerndem Auge, vorsichtigem Fuß und wachsamem Ohr leise den schweigenden Hof durchschritt und am Hauptgebäude, hinter dem sich das Zimmer Dona Rosaritas befand, entlangging, fanden auch noch andere Ereignisse statt, die notwendig hier erwähnt werden müssen.
Seit seiner Ankunft in der Hacienda del Venado hatte Don Estevan in Gegenwart aller Gäste kaum Zeit gehabt, in einer kurzen Unterhaltung mit dem Hacendero diesem oberflächlich den Erfolg seiner Verhandlung mit Cuchillo mitzuteilen. Bei dem Wort »Goldmine« hatte Don Agustin eine Gebärde enttäuschter Erwartung gemacht; aber bei der Unmöglichkeit, mehr darüber zu sagen, hatte er den Spanier gebeten, noch am selben Abend die Fortsetzung ihrer vertraulichen Eröffnung wiederaufzunehmen.
Arechiza hatte also gewartet, bis jeder nach Beendigung des Abendessens auf das für ihn bestimmte Zimmer gegangen war, dann führte er den Senator in die Vertiefung eines Fensters, und indem er ihm das von Sternen blitzende Gewölbe des Himmels zeigte, sprach er: »Ihr seht dort den ›Wagen‹, der schon im Morgen steht. An der Seite dieses strahlenden Sternenbildes bemerkt Ihr jenen Stern, der, in nebliger Ferne, kaum einen Schein herwirft. Das ist das Bild Eures Sterns, der, jetzt noch bleich, morgen vielleicht strahlender aufgehen wird als irgendeiner von denen, die das glänzende Gefolge des Wagens bilden.«
»Was muß ich also tun, Señor Arechiza?«
»Ich will es Euch heute abend sagen, und vielleicht ist der Augenblick weniger fern, als Ihr glaubt, in dem Ihr durch die Heirat mit dem prächtigen Mädchen, das deren Erbin ist, der zukünftige Herr dieser Hacienda sein werdet. Erwartet mich in meinem Zimmer; meine bevorstehende Unterhaltung mit Don Agustin wird entscheidend sein, und ich werde Euch so bald wie möglich von deren Ergebnis in Kenntnis setzen.« Mit diesen Worten verabschiedete der Spanier den Senator, dessen Herz zugleich vor Hoffnung und Furcht heftig schlug. Dann ging er zu dem Hacendero, der ihn erwartete.
Der Eigentümer der Hacienda del Venado hatte, wie wir schon gesagt haben, dem Spanier die ausgezeichnetste Aufnahme zuteil werden lassen, doch war in seinem Empfang vor Zeugen immer noch weniger Ehrfurcht zu bemerken, als die Haltung des Hacenderos zeigte, wenn er sich dem Spanier allein gegenübersah. Don Estévan schien seinerseits die Huldigungen Don Agustins zu empfangen wie etwas, das ihm zukam. Es lag in der artigen Herablassung Señor Arechizas gegen den reichen Eigentümer und in dessen vollständiger, ehrerbietiger Unterwürfigkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verhältnis eines hochgestellten, mächtigen Oberherrn zu einem edlen Vasallen.
Nur auf die wiederholten Bitten – wir müßten fast sagen, auf den dringenden Wunsch – des Spaniers willigte Don Agustin ein, sich zu setzen, während der erstere sich in einen mit Leder ausgeschlagenen Lehnsessel mit einer Nachlässigkeit geworfen hatte, die mit der vornehmen Haltung seiner Persönlichkeit ganz übereinstimmte.
Der Hacendero wartete schweigend, bis Don Estévan das Wort nehmen würde.
»Nun, wie gefällt Euch Euer zukünftiger Schwiegersohn?« fragte der Spanier. »Ihr habt ihn, denke ich, noch niemals gesehen?«
»Niemals!« antwortete Don Agustin. »Aber wäre er auch von der Natur weniger begünstigt, als er es ist, so wißt Ihr, daß dies unter uns kein Hindernis für unsere Pläne gewesen wäre.«
»Ich weiß es; denn man muß es anerkennen, es liegt in jedem rohen Klotz der Stoff zu einem Edelmann; um wieviel mehr erst in der Person eines Senators des ruhmvollen Kongresses von Arizpe!« fügte der Spanier mit einem leichten Anflug von Verachtung hinzu. »Aber das Hindernis liegt nicht darin; entscheidend ist, daß Eure Tochter ihren Bewerber nach ihrem Geschmack findet.«
»Meine Tochter wird nur nach meinem Willen handeln«, sagte der Hacendero.
»Selbst in dem Fall, daß ihr Herz nicht mehr frei sein sollte?«
»Das Herz Rosaritas ist frei, Don Estévan!« erwiderte Don Agustin. »Wie sollte es auch anders sein? Ihre Kindheit und ihre Jugend sind in unseren Einöden verflossen.«
»Und dieser junge zerlumpte Mann, dieser Tiburcio Arellanos, den Ihr schon zu kennen scheint?« fragte Don Estévan. »Er liebt Eure Tochter!«
»Ich weiß es seit heute morgen.«
»Wenn Ihr erst seit einigen Stunden das Geheimnis seiner Liebe wißt, könnte Euch das Geheimnis Doña Rosaritas nicht entgangen sein?«
»Freilich«, antwortete Don Agustin lächelnd, »verstehe ich mich besser darauf, der Spur eines Indianers zu folgen und auf seinem schlauen Gesicht seine geheimsten Gedanken zu lesen, als den Grund des Herzens eines jungen Mädchens zu erforschen; aber ich wiederhole: Ich habe Grund, zu glauben, daß das Herz Rosaritas frei ist von jeder früheren Liebe. Es obwaltet aber ein ernstlicheres Hindernis, Don Estévan – ich meine nicht gegen die zwischen uns verabredete Verbindung, sondern gegen die Expedition, die Ihr tief in die Steppen hinein unternehmen wollt.«
Der Hacendero teilte nun Don Estévan die Einzelheiten mit, die ihm von dem Franziskanermönch in betreff des Tiburcio hinterlassenen Geheimnisses von einer unermeßlichen Goldmine anvertraut waren.
Wir schweigen jedoch vorerst über den Eindruck, den diese vertrauliche Mitteilung auf den Spanier machte. Die Unterhaltung zwischen dem Hacendero und ihm dauerte noch lange. Was hatten sie sich zu sagen? Wir werden es später erfahren. Unterdessen ist es nötig, den Senator wieder aufzusuchen, der voll Angst die Minuten zählte bis zur Rückkehr Don Estévans in das für ihn bereitete Gemach.
Das Don Estévan de Arechiza angewiesene Zimmer war ohne Widerspruch das reichste der Hacienda, und doch hat der Luxus im Hausgerät noch so geringe Fortschritte in der Provinz Sonora gemacht, daß dieser Reichtum an Nacktheit grenzte. Kein Vorhang verhüllte die Eisenstäbe, die das