Bis an die Grenze. Grazia Deledda

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Bis an die Grenze - Grazia Deledda

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und ihre Ochsen dort zur Weide führten; man müßte ihn entlassen . . .

      »Siehst du«, sagte der Alte, »du bist genau wie jener Knecht. Auch du läßt dem schlimmsten Laster die Tür offen und wirst der Übel nicht gewahr, die du dir selbst und anderen zufügst. Heut’ oder morgen wird man auch dich entlassen! Paß auf, Junge!«

      Luca ließ den Kopf hängen, ging in die Küche und glaubte seine Schuldigkeit zu tun, indem er mit den Frauen den Rosenkranz betete: hundertundfünfzig Ave Maria. Hatte man ihn doch gelehrt, daß Gott dem reuigen Sünder vergebe.

      In der offenen Hoftür saß Gavina und blickte auf die schwarze Palme mit ihrem dunkelblauen Hintergrund. Der Mond kam eben hinter den Bergen hervor, und die Sterne funkelten so hell, daß es aussah, als ob sie sich regten, um den aufgehenden Planeten zu begrüßen. Durch die stille, warme Nacht erklang fernes Singen und die munteren Rufe der auf der Straße spielenden Kinder. Das waren Stimmen der Liebe und der Freude; und hin und wieder wurden diese Stimmen übertönt von einem lauten, bebenden Schrei wilder Leidenschaft, der wie ein verzweifelter Anruf an ein unerreichbares Wesen erschien.

      Gavina betete für den Frieden ihrer Familie. Alle zehn Ave Maria bat sie die Jungfrau Maria um eine besondere Gnade. Für den alten Vater erflehte sie Gesundheit, für die gute Mutter Stärke, für den unglücklichen Luca Besserung. Für die übrigen über die Welt zerstreuten Sünder erbat sie nichts, nicht einmal für sich selbst, und sie glaubte, damit ein Opfer zu bringen. Sie war ja bereit zu leiden, wenn das des Herrn Wille sein sollte. Inzwischen aber bat sie Gott nur um das, was für ihren häuslichen Frieden notwendig war.

      Jener den nächtlichen Gesang übertönende Schrei der Leidenschaft erinnerte sie immer wieder an Priamo und einen Augenblick lang vergaß sie dann alle andern und dachte nur an ihn. Bei der letzten Abteilung des Rosenkranzes überkam sie das Verlangen, Gott auch für sich selbst um Hilfe anzuflehen und für den, der sie offenbar liebte, ohne Hoffnung liebte; das aber deuchte ihr wieder eine so große Sünde, daß sie, um sie zu büßen, für die Witwe Lambedda betete.

      Die Witwe Lambedda war die böseste Zunge der ganzen Nachbarschaft, und gerade in diesem Augenblick hörte man ihre kreischende Stimme so schrill wie eine Feile, die über Eisen fährt. Signora Zoseppa fürchtete diese Frau, Gavina verachtete und floh sie.

      Nachdem der Rosenkranz gebetet war, hatte Paska noch die Küche in Ordnung zu bringen; Signora Zoseppa, müde von dem arbeitreichen Tage, nahm eine Öllampe und ging in ihr Zimmer; als sie an ihrem Sohne vorbeischritt, legte sie ihm die Hand auf den Kopf und sagte: »Geh’ zu Bett, Luca, du mußt müde sein . . .«

      »Gleich, gleich«, erwiderte er, rührte sich aber nicht.

      Auch Gavina ging in ihr Zimmer hinauf, aus dessen weit offenstehenden Fenstern man die Mondlandschaft sah und die kleine graue Stadt unter dem dunkelblauen Nachthimmel. Die bei Tage so einsame Straße erklang jetzt von schwatzenden und lachenden Stimmen. Die Kinder spielten im Mondlicht wie die Häslein auf den Waldpfaden; die Erwachsenen standen in Gruppen beisammen, um die Abendkühle zu genießen und zu plaudern.

      Von Zia Itrias Höfchen, die »Piazzetta« genannt, drang lautes Gelächter herüber und die Stimmen von Männern, die einander zum Scherz ausschimpften. Statt zu Bett zu gehen, trat Luca auf die Straße hinaus, hörte einen Augenblick den bösen Reden der Witwe zu und ging dann ebenfalls zu Zia Itria.

      Witwe Lambedda klatschte unterdes weiter: über den Kanonikus Felix, über seine Mägde, seinen Neffen: »Und das sind brave Leute? Umkommen sollen sie alle binnen acht Tagen! Die alte Magd, sagen die Leute . . .«

      »Schweigt, Ihr Klatschmaul!« rief der Kanonikus Sulis von seinem Balkon herunter, wo auch er, in Hemdärmeln, der Kühle genoß.

      »Ach, hört doch nur den da! Darf man in seiner Gegenwart nicht die Wahrheit reden?«

      »Ihr lügt nur, und darum: Still!«

      »Na, lassen wir die Magd und reden lieber von dem Neffen,« beharrte die böse Klatschbase. »Werden Sie vielleicht in Abrede stellen, daß er ein Taugenichts ist? Voriges Jahr ist er von Hause durchgebrannt – dies Jahr wird er aus dem Seminar durchbrennen. Ja, macht ihn nur zum Priester, dann wird er . . .«

      »Was verlangt Ihr von einem Jungen?« fragte gutmütig Signor Sulis, der sich nach dem Abendbrot wieder vor seine Haustüre gesetzt hatte.

      »Ich würde ihn eher an die Mühle stellen, als zum Priester machen.«

      »Nun, wenn alle Windbeutel Korn mahlen sollten, dann gute Nacht, Esel!« sagte der Alte und winkte einen Abschiedsgruß.

      Die kreischende Stimme erscholl noch lauter: »Ach, wirklich? Und warum denn nicht? Sollen nur die Armen zu Boden geworfen und mit Füßen getreten werden, sobald sie einen Fehltritt tun? Ach, mein armes Lämmchen, mein guter Sohn, du warst arm, und darum haben sie dich ruiniert!«

      Ihr Lämmchen saß im Gefängnis wegen Diebstahls, sie aber redete beständig von ihm wie von einem Kind, dem bitteres Anrecht geschehen war.

      »Vor Gott sind wir alle gleich, und am Tage des Gerichts wird er uns durcheinanderschütteln wie Oliven in der Presse«, sagte Signor Sulis, und man wußte nicht, ob er im Scherz oder im Ernst sprach.

      »Ich sage euch nur eins«, fuhr die Witwe fort, »nicht einmal vor Gott sind wir alle gleich! Warum hat er uns verschieden geschaffen? Den einen gut und den andern böse, den tugendhaft und den als Trunkenbold? . . . Wir möchten wohl alle gut sein, denn die Sünde ist verdammt!«

      »Gott hat uns alle gut geschaffen, sage ich euch«, rief jetzt der Kanonikus. »Und der freie Wille? Hat Gott unserm lieben Pascaleddu geboten, hinzugehen und zu sündigen?«

      Die Witwe fing an zu weinen und zu fluchen, und so ging es weiter, bis Signor Sulis sich zurückzog. Da ging Paska, um Luca von der »Piazzetta« zu holen. Er saß neben Zia Stria und schwieg, schien aber viel Gefallen an dem lebhaften Geplauder der übrigen zu finden.

      Auch Paska blieb stehen, wie von einem bösen Zauber angelockt. Und wirklich war das Bild, das sich ihr bot, der Betrachtung wert. Der Mond schaute bereits über die Mauer neben Zia Itrias Häuschen und beleuchtete den halben Hof, in dem zehn oder zwölf junge Leute um die Alte versammelt waren, recht sonderbare Gestalten, aber alle lustig und redselig. Drei von ihnen waren Schustergesellen, darunter ein Zwerg, so klein wie ein sechsjähriger Knabe, aber mit einem schlauen und spöttischen Mannsgesicht; ferner ein ehemaliger Klosterbruder, blaß und rothaarig, und ein sehr langer Alter mit einem ganz kleinen Kopf, der dem eines Hasen glich. Sie machten beständig gemeinsame Reisepläne zu dem Zweck, den Zwerg in »den großen Städten« als Naturwunder zur Schau zu stellen, und spotteten schon jetzt über die Leute, die herbeiströmen würden, um ihn zu sehen. Der merkwürdigste Kauz des Kreises aber war ein alter Bauer mit einem dunkeln, beinahe schwarzen Gesicht, das von langen weißen Haaren und einem schneeweißen Vollbart umrahmt war; er hatte in seiner Jugend fünfzehn Jahre im Gefängnis zugebracht, behauptete aber hartnäckig, während jener langen Abwesenheit von der Heimat sei er Soldat gewesen, habe unter Victor Emanuel und Garibaldi gedient. Seine kriegerischen Erlebnisse erzählte er in so witziger und zugleich überzeugender Weise, daß ihn alle wie einen alten Helden bewunderten.

      »Luca, komm mit, sonst schließe ich dir die Türe zu!« sagte Paska nach kurzem Zögern.

      »Du? Ach, wirklich?« erwiderte Luca in dem spöttischen Ton der andern, die bereits über die Magd lachten.

      »Luca, so redet man nicht zu seiner Amme!« ermahnten sie.

      »Schläft das Würmchen noch immer bei dir. Alte?«

      »Itria Sulis«,

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