Bis an die Grenze. Grazia Deledda
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Читать онлайн книгу Bis an die Grenze - Grazia Deledda страница 8
Am zweiten Tage nahm sie das Arbeiten und Beten in ihrem Zimmer vor, an dem nach dem stillen Garten gehenden Fenster sitzend. Aber um die Zeit, wo der Seminarist zum Kanonikus Sulis zu gehen pflegte, fühlte sie sich versucht an das andere Fenster zu treten. Dieses Verlangen, das ihr an jenem Tage sündhafter erschien als je, drängte sie zwar zurück, doch wenn sie an den Heiligen dachte, so sah sie ihn mit blassem Gesicht, die schmachtenden Augen fest auf die ihren gerichtet, und die Stirne von einem Kranz von schwarzen Haaren umgeben: er sah aus wie Priamo! Der Sonnenuntergang färbte die Berge rot, Dämmerung senkte sich über den Garten: die Erscheinung kam nicht.
Das dritte Mal, am Tage vor dem Feste der Madonna im Schnee genoß Gavina nur Wasser und Brot und arbeitete bis zum späten Abend, bis den malvenfarbenen Himmel über den Domplatz einfallende Goldstrahlen streiften. Aber die Erscheinung kam nicht, und Gavina weinte vor Kummer und vor Sehnsucht.
Am folgenden Tage war das hohe Kirchenfest. Schon am frühen Morgen kamen mehrere Freunde Herrn Sulis’ zu Gast, darunter eine Dame aus einem Dorf im Gebirge. Es war eine Hochgewachsene, stattliche Frau, in schwarz und gelb gekleidet, mit weitem Rock und Schneppenmieder, wie eine Dame des Seicento. Gavina begleitete sie zur Kirche und kniete neben ihr, zwischen zwei alten Hirten, die einen unangenehmen Stallgeruch verbreiteten.
Die Kirche war gedrängt voll. Die elegantesten jungen Damen saßen auf ihren zierlichen Klappstühlchen dicht unter der Kanzel beisammen; einige von ihnen scheuten sich nicht, sich nach den jungen Leuten umzusehen, die sich vor der Taufkapelle aufgestellt hatten, und sogar mit ihnen Blicke zu tauschen. Gavina blickte auf sie als auf die vornehmsten und verderbtesten Geschöpfe der Welt.
Auf einmal öffnete sich das Hauptportal der Kathedrale; und in einem Strom von Licht schritt der von Gold strotzende Bischof herein, zwischen den Domherren in rotseidenen Mäntelchen und den Seminaristen in spitzenbesetztem Meßhemd und blauen Bändern um den Hals. Zwei von ihnen trugen die gleißende Schleppe des Bischofs – und der eine war bleich und schön wie ein Engel, und die herabfallenden weiten Ärmel seines Meßhemdes sahen aus wie zusammengelegte müde Flügel. Als der Zug dicht an den Bänken vorüberkam, begegneten die trüben Augen des müden Engels den Augen Gavinas.
Die Seminaristen nahmen auf dem Chore Platz. Nachdem Priamo die bischöfliche Schleppe niedergelegt hatte, dachte er an nichts anderes mehr, als Gavina mit den Blicken zu suchen. Es war, als ob er in der von Licht und Farben strahlenden Kirche nichts anderes sähe als sie. Und sie fühlte ihre Kraft schwinden unter jenem Blick; sie selbst erschien sich verderbter als jene Mädchen, die nach den jungen Leuten blickten, und sie hätte weinen mögen vor Liebe und Gewissenspein.
Am Nachmittag begleitete sie die Dame bei einigen Besuchen. Zuletzt gingen sie zum Kanonikus Bellia, einem Landsmann der Dame.
Er wohnte in einem Häuschen außerhalb des Ortes mit einer alten Verwandten, die so naiv und einfach war wie ein Kind. Gavina, die außerhalb des Beichtstuhls eine große Scheu und eine fast geheimnisvolle Furcht vor ihrem strengen Beichtvater hatte, saß in einer Ecke des Besuchzimmers, das wie eine Kapelle aussah, und verhielt sich so stumm und steif, als wäre sie eine der hundert Heiligenfiguren um sie her. Die Frauen plauderten harmlos und liebenswürdig; der Kanonikus Bellia, eine hohe, gebeugte Gestalt mit olivenfarbigem, tief gefurchtem Gesicht, hörte zu, ohne nur die bläulichen Lider zu heben, und runzelte jeden Augenblick die dichten grauen Brauen, als ob er das doch so unschuldige Geplauder der beiden Frauen mißbillige. Ein einzigesmal nur lächelte er, als seine Verwandte sagte: »Wir wollen es nicht machen wie Bellia; er beklagt sich immer, daß ihn niemand grüßt, und im Gegenteil ist er es, der die Leute nicht ansieht.«
Auf einmal ging die Tür auf, und zwei schwarze Gestalten traten ein: Kanonikus Felix und sein Neffe.
Gavina errötete, sprang auf, setzte sich wieder hin, sah Priamo vor sich – und von dem Augenblick an nichts anderes mehr.
Der Kanonikus Felix sagte mit seiner gewohnten Gelassenheit: »Es ist kalt heute! Darum hatten auch alle Herren den Überzieher an.«
»Ist es zu heiß hier?« fragte Signora Bellia besorgt. »Sollen wir ein wenig in den Garten gehen? Sie könnten unsere Aprikosen kosten.«
Sie gingen in den Garten und kosteten die Aprikosen.
Priamo reckte sich hoch auf, um die Zweige zu erfassen. Er war schlank und gewandt und brannte vor Verlangen nach Bewegung; er schien sogar Gavina zu vergessen, um in dem Garten umherzuspringen, der groß und dicht verwachsen war und mit den allenthalben verstreuten Felsbrocken wie ein Stückchen Gebirg aussah.
Gavina überkam eine unbestimmte Trauer. An dem Gespräch der Domherren und der Frauen nahm sie nicht teil und fühlte sich deshalb vereinsamt. Während die andern weitergingen, setzte sie sich auf ein Felsstück, das die Form eines hochlehnigen Sessels hatte. Die Sonne neigte sich zum Untergang und schwebte wie ein feuriger Ball auf goldigem Himmelsgrund über dem alten Kloster. Durch die Stille erklang der Schrei eines Falken, die Luft roch nach Königskerzen. Mit einem Male gewahrte Gavina vor dem flimmernden Sonnengold einen dunkeln Schatten, der auf sie zueilte. Sie sprang auf, wie von der Furcht einer unabwendbaren Gefahr erfaßt; doch bevor sie sich noch von dieser Gefahr Rechenschaft zu geben vermochte, fühlte sie sich eingeklemmt zwischen dem Felsen und der schwer atmenden Brust Priamos. Er schien ganz verwandelt: sein Gesicht war tieftraurig, und aus den Augen sprach eine wilde Erregung; seine Lippen bebten und preßten sich mit zuckender Leidenschaft auf die Gavinas. Sie empfand einen gewaltigen Schmerz: es war ihr, als müsse sie nun ihr Leben lang so zwischen dem Felsen und der keuchenden Brust Priamos eingeklemmt bleiben – und doch war in dieser Pein auch etwas Süßes, wie in den mystischen Verzückungen, die sie bisweilen überkamen.
Ein Geräusch hinter den Bäumen machte der wilden Liebeserklärung des Studenten ein Ende. Er ließ von Gavina ab, und sie blickte verwirrt um sich.
»Ich will dich sehen! . . . Wo? Wo? Ich hab’ dich lieb, und du auch . . . mich . . . Ich will nicht Priester werden«, sagte er hastig und versuchte sie festzuhalten; aber sie stieß ihn zurück und lief davon, von Liebe und von Furcht ganz verwirrt.
Alsbald ward sie von den heftigsten Gewissensbissen erfaßt: Geküßt! Er hat mich geküßt! dachte sie mit Zittern. And es war ihr, als sei sie befleckt, als habe sie bereits alle Offenbarungen der Liebe empfangen.
Diese Offenbarungen indes dünkten sie brutal. War das die Liebe? So war sie wohl süß, doch auch schrecklich: der Kuß hatte ihr wehgetan.
An jenem Abend ging sie mit Paska zum Brunnen. Sie mußte Michela sehen, um ihr ihr quälendes Geheimnis anzuvertrauen.
Der Abend war mild und dämmerhell; der Mond stieg hinter einem leichten violetten Duft auf, der den ganzen Himmel verhüllte und doch sein tiefes Blau durchscheinen ließ. Die Berge drüben im Talgrund waren so licht wie Silber.
Michela wartete bereits am Tor ihres Häuschens und wechselte unterdes einige Worte mit ihrem jungen Einwohner, der an seinem Fensterchen stand.
Er lachte und rief: »Zehnmal bin ich vorübergegangen und habe sie nicht gesehen . . .«
Als er Gavina bemerkte, verstummte er.
Sobald die Frauen die Landstraße erreicht hatten, sagte Michela: »Francesco Fais hat sich in dich verliebt, aber er fürchtet sich . . .«
»Daran tut er sehr gut,« brummte Paska und fing an, über den Unverschämten loszuziehen.