Bis an die Grenze. Grazia Deledda
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Читать онлайн книгу Bis an die Grenze - Grazia Deledda страница 12
Und nun geschah etwas, was der schlaue Alte vielleicht vorausgesehen hatte: am Nachmittag kamen Luca und Priamo. Luca hegte eine fast krankhafte Zuneigung für alles kleine Getier und kam nur, um den Damhirsch zu sehen. Und Priamo, weshalb kam er? . . . Gavina hätte es sagen können, und vielleicht auch Zio Sorighe; aber der alte Hüter war damit beschäftigt, einen großen Kessel Wasser zum Kochen zu bringen und aschgraue Pfirsichblätter hineinzutun. Und Gavina tat beharrlich, als habe sie das Kommen der beiden jungen Leute gar nicht bemerkt: an dem kleinen Fenster lehnend, blickte sie in die Ferne und schien sehr in Sorgen, weil am Horizont eine kleine, lichte Wolke stand, die wie ein silbernes Schwert aussah. Und mit einemmale war es ihr, als hinge dieses Schwert über ihrem Haupte . . .
Signora Zoseppa sagte: »Luca, laß das Tier jetzt in Ruhe und tue etwas Nützlicheres; hilf mir die Fässer reinigen. Und du, Priamo, könntest mit Gavina gehen und die Feigen pflücken.«
Priamo sprang sogleich hinaus und blieb, Gavina erwartend, bei Zio Sorighe stehen, der das Feuer unter dem Kessel schürte. »Ihr wascht die Fässer mit ausgekochten Pfirsichblättern aus?« sagte Priamo erregt. »Bei uns . . .«
Er vollendete nicht, um Gavina nachzueilen, die, den Damhirsch lockend, zu der Eiche hinaufging, wo sie unter Herzklopfen anhielt. Priamo folgte ihr, und ihr war es, als ob seine Gestalt, wie sie auf dem lichten Hintergrund der Landschaft hervortrat, für sich allein die ganze Einsamkeit der weiten Hochebene ausfülle.
Sie zitterte vor Furcht, vor Neugier, vor Erwartung.
»Gavina, warum eilst du so? Warte doch!« sagte er und betrachtete den mächtigen Stamm der Eiche. »Wie schön ist es hier! Hast du auch schon deinen Namen eingeschnitten? Hier könnte man ihn gut einschneiden und auch den meinen.«
»Wo?« fragte sie, indem sie sich auf die Fußspitzen hob und sich mit der linken Hand auf den Baumstamm stützte. Da legte er seine Hand auf ihre kleine, zitternde Hand; sie schmiegte sich wie Schutz suchend an den Baum – er aber nahm sie sogleich in seine Arme und küßte sie.
»Jetzt sollst du mir nicht mehr entschlüpfen«, sagte er in leidenschaftlicher Erregung. »Ich will wissen, warum du mich fliehst! Denn ich weiß doch, daß du mich lieb hast. Ich will nicht wieder ins Seminar zurück. Nein, lieber werde ich Bauer, Packträger, Hirt . . . Nur nicht Priester . . . Du willst mein sein, sag’ es mir, du willst mein sein . . .«
Obwohl die von ihm eröffneten Aussichten in die Zukunft nicht gerade glänzend waren, erwiderte sie leise, fast unbewußt: »Ja!«
Da küßte er sie stürmischer, und sein Gesicht leuchtete vor Freude; einen Augenblick lang vergaßen sie all das Trübe und Falsche in ihrem Leben; einen Augenblick lang waren sie, was sie ihre ganze Jugend hindurch hätten sein sollen: aufrichtig und glücklich. Der kleine Damhirsch umsprang sie, und die Eiche rauschte über ihnen: es war, als ob das Tier und der Baum und alles ringsum frohlockte beim Anblick der beiden jungen Menschen, die sich in Liebe umschlungen hielten. Auf einmal aber ertönte die Stimme des Hüters, der den Schrei des Falken nachahmte, um die Vögel zu schrecken, die sich auf den Feigenbäumen niedergelassen hatten.
Auch Gavina und Priamo wurden dadurch verscheucht. Er bemerkte die kleine Hütte oben im Weinberg und über die kahlen Weinstöcke hinweg eilte er darauf zu, wie zu einem sicheren Hafen. Gavina folgte ihm, das Herz von Liebe geschwellt, doch schon von Gewissensbissen heimgesucht.
»Ich werde dir schreiben«, sagte er leise. »Wie kann ich dir Briefe schicken? Der Post mag ich sie nicht anvertrauen. Und deshalb allein habe ich dir nie geschrieben.«
»Ach, nein, nein, tu’ es nie! Du würdest mich unglücklich machen«, erwiderte sie erschrocken.
»Ich kenne deine Freundin, Michel« . . .«
»O, sie ist so fromm,« sagte Gavina und errötete. Dann aber ward sie traurig und seufzte wie ihr Beichtvater. »Michela und ich, wir haben gelobt . . . nie zu heiraten«, sagte sie schüchtern.
»Was sagst du da?« unterbrach er sie. »Es ist also nicht wahr, daß du mich liebst . . . warum, warum täuschest du mich denn?«
»Wenn ich dich nicht heiraten kann, so werde ich auch nie einen andern heiraten. Nur um deinetwillen . . .«
»Schwöre es mir! Schwöre!« Er blieb vor der Hütte stehen; sein Gesicht war blaß und tieftraurig, und die Augen blickten angstvoll auf Gavina.
Sie erhob den Kopf, in ihrer alten, stolzen Art, und sah ihm fest in die Augen. »Ich brauche nicht zu schwören . . . Wenn ich dich nicht heirate, so heirate ich auch keinen andern, sage ich dir!«
»Komm!« bat er, Und deutete auf die Hütte.
»Nein, nein, laß uns hier bleiben!«
Aber nachdem er sich versichert, daß niemand sie sah, faßte Priamo Gavina bei den Armen und zog sie hinein.
In jener Nacht schlief sie nicht. Priamos Küsse brannten noch auf ihren Lippen, aber der Gedanke, daß sie gesündigt habe, quälte ihr Gewissen auf das heftigste. Es war ihr, als ob sie durch das Rauschen der Eiche hindurch die dumpfe Stimme ihres Beichtvaters vernähme: »Ihr wollt zur Nebenbuhlerin Gottes werden? Nebenbuhlerin Gottes, versteht ihr wohl? So denkt daran, daß er uns schon hier auf Erden strafen kann.«
Sie aber wagte, auf die Großmut ihres furchtbaren Nebenbuhlers zu hoffen: Mein Gott, du weißt es, daß wir einander lieb haben, er und ich. Wir werden gute und fromme Menschen werden . . .
Wie aber den Vorwürfen, der Rüge des Kanonikus Bellia entgehen? . . . Ein Gedanke kam ihr in den Sinn: Nicht mehr beichten, schweigen, bessere Zeiten abwarten . . .
Wiederum aber murmelte jene dumpfe Stimme durch das melancholische Blätterrauschen: »Ach, ihr wollt schweigen, meine Tochter? Wen wollt ihr denn betrügen? Wirklich ihn? Er sieht, er weiß alles, meine Tochter; und mögen wir auch uns selbst betrügen – ihn nicht, ihn nicht!«
Am anderen Morgen in aller Frühe stand Gavina unter der Eiche und dachte an Priamo, als sie den Knecht aus der Stadt mit zwei Pferden ankommen sah. Er sollte freilich an jenem Tage kommen, sie abzuholen, aber erst gegen Sonnenuntergang; weshalb also kam er so früh?
»Der Herr hat diese Nacht einen kleinen Zufall gehabt; es wäre wohl besser, wenn Sie jetzt gleich zurückkämen.«
Der kleine Zufall war ein Gehirnschlag, und als Signora Zoseppa und Gavina nach Hause kamen, lag der Kranke im Sterben. Gavina warf sich zu Füßen des Sterbebettes ihres Vaters nieder und dachte an den furchtbaren Nebenbuhler, der sie getroffen hatte, wie nur Er zu treffen weiß.
Zweiter Teil
I
Nach dem Tode Signor Sulis’ wurde das Haus stiller als ein Kloster. Die Trauer mußte streng beobachtet werden, wenigstens für zwei Jahre; während der ersten sechs Monate blieben die Fenster nach der Straße geschlossen. Gavina verzehrte sich fast vor Traurigkeit. Sie hatte ihren Vater auf dem Totenbett gesehen; blaß und mit verhaltenem Atem hatte sie sich über sein stilles Gesicht gebeugt, in die halbgeschlossenen grünlichblauen Augen geblickt wie in ein Geheimnisvolles ohne Licht und Bewegung, und den Eindruck gehabt, daß dieses Bewegungslose, Kalte nicht der Abgrund des Todes, des Nichts sei, sondern der Abgrund des Lebens. So also endete alles! Ihr Vater, der gestern noch lächelte und scherzte, lag da unbeweglich und stumm für alle Ewigkeit! Was ist das Menschenleben? Ein