Jutt & Jula. Brust Alfred

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Jutt & Jula - Brust Alfred

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dann wälzte er diese müßigen Gedanken von sich. Denn Maria war ja immer bei ihm. Jetzt, wo sie »gestorben« war, umlebte sie ihn ja um vieles klarer als vordem. Er setzte sich in den Zustand ihrer Gegenwart und verließ mit innigem Lächeln die unfruchtbaren Hügel. Aber wie er vom Kirchgarten hinaustrat auf den Dorfanger, durchbebte ihn doch ein unüberwachter Schreck.

      Er hatte es ja gewußt, aber eigentümlicherweise heute nicht daran gedacht. Nun er doch das Ungeheuerliche mit den Augen erlebte, ging ihm ein leiser Krampf übers Herz, und die Saite der Wehmut erzitterte in reinem Ton.

      Dort drüben standen die Ruinen seines Elternhauses, darin er als Kind gelebt und gespielt. Es war in der Nacht nach Marias Tode abgebrannt. Die Flammen mußten es sehr schwer gehabt haben, den wuchtigen, zweihundert Jahre alten Bau zu bezwingen. Doch es war alles dahin, auch die Scheunen und Stallungen.

      Und er ging über den Hof, der ihm zeitlebens als Sehnsucht vor der Erinnerung gestanden hatte. Hier lag noch der Steinhaufen, die Freude seiner Kindertage: der sehnsüchtige Traum, wenn er in der Stadt weilte, wo er zur Schule ging, in den kargen Ferien die frühe Morgensonne warm und heiter auf diese Steine brennen zu sehen. Ja – es war seltsam. Wenn er vor Heimweh geweint hatte, so geschah es nicht vor Heimweh nach Eltern und Gespielen, sondern nur allem vor Heimweh nach diesem armseligen Steinhaufen, wenn Morgensonne darauf lag.

      Und jetzt trat er heran und strich mit leiser Hand freundlich und dankbar über die Quadern und Blöcke, die sich nun bald würden in einen Neubau einfügen lassen müssen.

      »So sind wir alle einmal dran,« flüsterte er ihnen lächelnd zu. Er sah sich um, aber da war niemand, den er hätte fragen können. Den augenblicklichen Besitzer kannte er nicht . . . Wozu auch . . .

      Er ging hinaus auf die Felder, die zu diesem Hause gehörten oder doch gehört hatten. Sie gingen in schmalem Streifen bis hinan zu jener Höhe, darauf die Ziegelei stand . . . Oh! es war hier alles noch so wie ehemals. Jeder Graben war geblieben. Und der Ahorn, den er hier gepflanzt, war ein stattlicher Baum worden. Auch das hölzerne Brückchen fand sich noch – und – o Wunder! – durch das Kleefeld zog sich auch heute der liebliche Fußpfad. Er wunderte sich über die Dauerhaftigkeit kleiner Dinge. O ja! es war nicht nur möglich, es war sogar wahrscheinlich, daß dieser kleine Steg schon seit Jahrtausenden von Menschen benutzt wurde. Und auf einmal sah der schmale silbergraue Strich in diesem fetten Klee sehr erfahren und geheimnisvoll aus. Und dann kam der Hohlweg, zu dessen Seiten noch immer die paar Erdbeerstauden wuchsen – hier mitten auf dem weiten Felde. Es waren nur etwa zwanzig Stauden. Und es waren nicht mehr geworden. Fünf Jahrzehnte standen sie – o nein! sie werden hier vielleicht auch schon fünfzig Jahrzehnte gestanden haben und noch unzählige Jahrzehnte stehen. Wie alt wird solch eine Pflanze, du kleiner Mensch?! –

      Und plötzlich hob vom Dorf her, das so bekannt und traulich hinter ihm lag, die Glocke vom Kirchturm an das Mittagslied zu singen. Er faltete die Hände und lächelte selig in sich hinein. Auch er hatte als Kind dort oben im Turm gestanden und am Glockenseil gezogen, und war sehr stolz gewesen im Bewußtsein, daß diese seine kleine Arbeit so weit, weit im runden Land gehört wurde.

      Jetzt aber zog es ihn hinüber zur Wassermühle, wo Maria ihre einsamen Tage beschlossen hatte. Er ging immer den Fluß entlang, der über den Kieselgrund hinweg sein klares Wasser eilig dahinstürzte. Und es war ein seltsamer Fluß mit eigentümlichen Fischen drin und sonstigen Wasserbewohnern, vor deren Rätselhaftigkeit gelehrte Leute mit ratlosen Gesichtern standen. – Und dann kam der Baum, der ein Storchnest trug. Der Storch darauf konnte wohl derselbe sein, der schon vor fünfzig Jahren hier gestanden. Denn das Rot seiner Beine und seines Schnabels war verwittert, und er trug einen riesiglangen Federbart am Halse. Und nun kam die Wassermühle, die Maria gekauft hatte, als sie vor zwanzig Jahren hierher geflüchtet war, – in seine Heimat geflüchtet, die ihre auf immer verlassend, und ihm das Versprechen abnehmend, sie nie in dieser seiner Heimat jemals zu besuchen.

      Die Wassermühle war zerfallen, weil im nächsten Dorfe eine Dampfmühle gebaut war. Das Wohnhaus war in gutem Zustande. Dahinter lag der blanke Mühlenteich und roch nach Kalmus. An diesen Mühlenteich schloß sich mit tiefem Tal das Daubenwäldchen, ein kleiner dichter Laubwald, darin Maria, wie er wußte, ein kleines hölzernes Kapellchen errichtet hatte, um sich dort ungestört in der lieblichsten Einsamkeit ihrem Gottesdienst widmen zu können. Der Hof der Wassermühle stand verlassen da. Alle Türen waren abgeschlossen. Niemand öffnete, keine Antwort, kein Laut war zu hören. Nur vom Wehr drang durch die Mittagsstille das sanfte Rauschen eines Wasserfalls, der das zerbrochene Mühlrad nicht bewegte.

      Er rastete an der Schleuse, aß ein Stück trockenen Brotes und trank dazu ein wenig von dem kalmushaltigen Wasser, das er sich in die hohle Hand rinnen ließ. So wollte er noch die Kapelle besuchen, durch die Kräuterfelder gehen und am Abend im Dorf beim Arzt oder Pfarrer sich nach einem Lebenszeichen erkundigen, das Maria für ihn zurückgelassen habe. Es mochte nun ein Brief oder eine mündliche Nachricht sein. Nur hoffte er seinen im Ort bekannten Namen nicht nennen zu brauchen, denn er galt als Verschollener, Verlorener, Verkommener, als ein am Rande des Lebens Gestrandeter, der es zu keiner geregelten Tätigkeit gebracht hatte, der wahrscheinlich seinen Beruf, oder seine Beschäftigung nicht einmal zu benennen vermochte. Und der Alte fand, daß die Leute im Grunde gar nicht so unrecht hatten, wenn sie dieser Ansicht waren. Irgendwie stimmte das alles. Bloß was sie in ein paar Sätze zusammenbrachten, war eine ganze Lebenskette, deren Schlußring ihnen verborgen bleiben mußte. Und das war schön. –

      Er stieg hinan die sanfte Höhe zum Daubenwäldchen. Eine lichte Birkenpflanzung hatte die eigentliche Bodenerhebung bedeutend verdeckt. Von hier aus konnte man sehen, wie sich der Mühlenteich zärtlich um den Hügel legte und schließlich sich zum Flusse verjüngte, daraus er gebreitet.

      Er hielt ein wenig inne und sah sich um. Da – plötzlich – gewahrte er nah bei sich neben einem schlanken Birkenstamm zwei junge Menschen sitzen, ein Jüngling und eine Jungfrau offenbar. Sie saßen eng beieinander und hielten sich in den Hüften umschlungen. Dann wandten sie einander die überseligen Gesichter zu und preßten ihre Lippen zu einem langen, langen Kuß.

      Es war tiefstill. Ein zarter Hauch wehte zwischen den reinen Bäumen. Und die dünnen Birkenzweige verharrten mit ihrem jungen Laub bewegungslos wie in gebeugter Demut.

      Und so lange, lange dauerte der Kuß. Und so rein, rein, rein schimmerten die seligen Gesichter. Sie schienen in der ganzen Landschaft um sie her aufgelöst zu ertrinken. Und es war doch die ganze Landschaft und noch viel, viel mehr, was in diesem Kusse zweier ungetrübter Menschenkinder schwamm und versank. Hier ging ein ungehemmtes Strahlen und Schenken ohne Ursache in den Raum und segnete mit seiner Überschwänglichkeit den ganzen Kreis der unsichtbaren und der sichtbaren Dinge und Geschöpfe. Die wieder dankten ihrerseits und bereiteten der Schöpfung eine feierliche Atempause. Die Vöglein saßen stumm auf den Zweigen. Busch und Baum zogen ihre Schatten ein, so daß nur Sonne war, weiße Sonne, in der die reinen Liebenden badeten ohne es zu wissen und zu wollen. Und der Wind hielt alle Geräusche auf, die aus der Ferne oder Nähe hätten stören können. Die Biene brummte nicht, und der Schmetterling nippte nicht vom Seim. Die Fischheere standen reglos im Gewässer. Und nur ein zarter Reigen, den die Liebenden nicht sahen – so klein war er – ging auf und ab vor ihren stillen Füßen . . .

      Der Wanderer erschauerte unter der elementaren Wucht dieses gewaltigen Erlebnisses zuinnerst. Er dankte ganz heiß in sein Ich hinein für diese erhabenen Sekunden, die Gott ihm bereitet. Die Schächte seines Lebens taten sich auf und er stieg weit hinab. Weit – sehr, sehr weit. Und schmerzlich zuckte es in ihm auf: »Maria!«

      War er noch immer nicht am Ende?

      Aber Maria war ja da! war hier, um ihn her – und noch nie so unmittelbar bei ihm gewesen!

      Und mit feierlichem Ernst schritt er in große Andacht versunken hinunter ins Tal, auf dessen einer Seite das winzige Kirchlein stand.

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