Die Geheimbünde. Marco Frenschkowski
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Mein Schwerpunkt liegt also auch nicht auf dem »Neuen« und »Sensationellen«, sondern auf kulturgeschichtlichen Fakten und ihrer Relevanz und Aussagekraft für größere kulturelle und religionsgeschichtliche Zusammenhänge. Die Unterscheidung von historisch verifizierbaren Fakten, plausiblen Erwägungen und Spekulationen ist natürlich schlechterdings fundamental. Jedoch sind Spekulationen und Projektionen selbst kulturelle Tatsachen, wenn sie eine gewisse Ausbreitung erfahren, wie wir gerade aus unserem Thema nachhaltig lernen können. Auch der einsame Verschwörungstheoretiker, der seine Gedanken allenfalls auf einer Internetseite verbreitet, ist ein Teil unserer Kultur – und seine Zuhörer sind oft eine weit größere Gruppe, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Daher sind Gegenstand dieses Buches auch allerlei Theorien, die nicht durch allgemein zugängliche Fakten abgestützt werden – die Theorien, Ideen, Gerüchte und Hypothesen sind hier eben selbst kulturelle »Fakten«, die als solche Beachtung verdienen. Aus dem gleichen Grund treten in diesem Buch auch nicht wenige Themen in den Blick, um welche die Geisteswissenschaften herkömmlicherweise einen weiten Bogen zu machen pflegten. Dies kann sich eine empirische (nicht normative) Kulturwissenschaft jedoch nicht leisten. Kulturelle Phänomene sind nach quantitativen und qualitativen Kriterien zu beschreiben, auch wenn die sie tragenden Überzeugungen auf den Forscher nicht »seriös« wirken. Leitenden Überzeugungen müssen sogar sehr bewusst und programmatisch hintangestellt werden, um die betreffenden Überzeugungswelten in ihrer kulturellen Relevanz auch nur wirklich wahrnehmen zu können.
Es geht hier also oft nicht so sehr um »wahr« oder »falsch«. Was Menschen glauben und praktizieren – und die betreffenden Menschen selbst – sind Gegenstand kulturwissenschaftlicher Arbeit, nicht die letztliche Wahrheit ihrer Überzeugungen. Wenn z.B. weltweit wahrscheinlich mehrere Millionen Menschen behaupten, von »Außerirdischen« entführt und zum Gegenstand von Experimenten gemacht worden zu sein, ist das z.B. selbst ein erstaunliches kulturelles Faktum, das Analyse verdient – auch ganz unabhängig von der (natürlich legitimen und notwendigen) Frage, ob diesen Berichten irgendeine Art transsubjektiver Wahrheit zukommt. Der Glaube selbst, die Überzeugungswelten sind kulturelle Tatsachen von erheblicher Tragweite und Aussagekraft. Überzeugungen spannen einen imaginativen Kosmos auf, der zu unserem Lebensraum gehört. Ähnliches gilt für Spekulationen über Geheimgesellschaften, Verschwörungstheorien, aber auch utopische Bilder von idealen geheimen Orden. Sie selbst sind kulturgeschichtliche Fakten, aus denen etwas zu lernen ist über unsere Gesellschaft, ihre Geschichte und über den Menschen selbst als kulturelles Wesen, das nicht nur in der »realen« Welt lebt, sondern immer auch in einer imaginierten Welt, welche das Vorfindliche deutet und interpretiert. Damit ist der Fragehoriziont des vorliegenden Buches beschrieben. Wir beschreiben unser Thema systemisch – auch wenn dieser Gesichtspunkt hier jeweils nur sehr knapp skizziert werden kann.
Fragen über z.B. die »Wirklichkeit« von Verschwörungen sollen nicht grundsätzlich desavouiert werden. (An die skandalöse Geschichte der Loge Propaganda Due, welche vor wenigen Jahren das politische System Italiens ins Chaos stürzte, muss nicht erst erinnert werden.) Sie sind aber nicht in erster Linie Gegenstand eines kulturwissenschaftlichen Buches. Dies ist kein Enthüllungsbuch. Wer gruseliges Entertainment (oder »Infotainment«) über angeblich die Weltherrschaft anstrebende Geheimgruppen sucht, wird auf den folgenden Seiten nicht fündig werden. Wer aber wissen möchte, warum und in welchen kulturellen Kontexten solche Ängste in besonderer Weise virulent werden, wie sie in Literatur und Film umgesetzt werden, und wann sie offenbar eine besonders große Zahl von Menschen ansprechen, wird in den folgenden Kapiteln eine Reihe interessanter Fakten finden. Und natürlich sind die realen Geheimbünde, Mysterienkulte und Orden mit Arkandisziplin mit ihrem kulturwissenschaftlich sichtbaren Einfluss auch an und für sich interessant, nicht nur als Gegenstand gesellschaftlicher Projektionen. Ausschließlich politisch motivierte Geheimgesellschaften, die keine religiösen oder sonst außerpolitischen Absichten in ihrer Programmatik aufweisen und deren Geheimhaltung nur auf widrigen äußeren Umständen beruht, sind dagegen nicht Gegenstand dieses Buches. Manche andere Gruppe hätte mit gleichem Recht besprochen werden können: Die Auswahl ist exemplarisch und in gewissem Maße auch willkürlich. Das ist freilich bei einem Buch deutlich begrenzten Inhaltes nicht zu vermeiden.
Da dies nur eine kurze, auf Lesbarkeit angelegte Studie sein kann, die in das Thema einführen soll, muss auf eine ausführliche Dokumentation verzichtet werden. Doch wird in jedem Einzelfall der Grundsatz verfolgt, so weit es irgend möglich ist, aus den Quellen selbst zu schöpfen, sofern diese zugänglich sind, und diese auch zu benennen. Daher enthält jedes Kapitel Literaturangaben, bei denen der Schwerpunkt auf seriösen Arbeiten und Quellen liegt, und die eine sinnvolle Weiterarbeit ermöglichen sollten. Ich habe lange überlegt, ob ich eine grundsätzliche Trennung zwischen »seriösen« und »unseriösen« Büchern in irgendeiner Form durchführen soll, mich dann aber gegen eine solche Simplifikation entschieden. Die Frage, was eine Darstellung »unseriös« (nicht einfach: falsch!) macht, habe ich an anderer Stelle versucht, einer Klärung näherzuführen (Marco Frenschkowski, Literaturführer Theologie und Religionswissenschaft. Paderborn 2004, 363-378). In den allgemeineren Literaturangaben habe ich mich meist auf deutsch- und englischsprachige Bücher beschränkt und gelegentlich angegeben, aus welchen Darstellungen ich meine, am meisten zur Sache gelernt zu haben. Eine ausführlichere Dokumentation ist an dieser Stelle nicht möglich. Eine kommentierte Bibliographie zum Thema (wie es sie für Ausschnitte wie die Freimaurergeschichte bereits in verschiedenen Formen gibt) wäre ein Desiderat. Ich schließe mit einer Widmung: This little book is dedicated to the memory of James Webb (1946-1980) – who would have been the century´s greatest scholar of rejected knowledge – had he but lived.
Marco Frenschkowski
Hofheim (Ts.), im August 2007
1. Geheimbünde und geheime Gesellschaften: eine Typologie
Eine kulturphänomenologische Typologie
Es empfiehlt sich, mit einer kleinen Typologie zu beginnen, die möglichst wenige theoretische oder heuristische Vorgaben impliziert, sondern sich an sehr schlichten äußerlichen Unterscheidungskriterien orientiert. Wir haben nicht das allgemein kulturelle und religiöse Phänomen der Geheimhaltung im Blick, sondern speziell Gruppen – abgrenzbare, sich als zusammengehörig erfahrende Gemeinschaften von Menschen – in deren Struktur Geheimhaltung wichtig ist. Diese Geheimhaltung kann sich freilich auf ganz verschiedene Dinge beziehen. So kann es sein, dass sich Mitglieder zwar untereinander kennen, aber nicht als solche in der Öffentlichkeit auftreten und also nicht als solche identifizierbar sein wollen (das Geheimnis liegt also in der Mitgliedschaft). Bei Freimaurern ist es seit Anbeginn üblich, Aussagen über die Mitgliedschaft anderer nur zu machen, wenn der Betreffende das ausdrücklich autorisiert hat. Gruppen, die in bestimmten Staaten gesellschaftlich angefochten oder diskreditiert sind oder öffentlichen Verdächtigungen unterliegen, handhaben dies im allgemeinen ähnlich, in Deutschland z.B. die Scientology-Kirche e.V., ebenso auch manche neomagischen Gruppen. In diesen Fällen ist die Geheimhaltung nicht strukturell bedingt, sondern folgt aus gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Andere Gruppen treten nicht öffentlich auf und geben keine Informationen über Mitgliedschaften; in einigen seltenen Fällen sind Mitglieder durchaus identifizierbar, die Ordenleitungen dagegen für Außenstehende anonym oder pseudonym.
Andererseits kann sich die Geheimhaltung auf Inhalte, Ziele und Rituale beziehen. Diese sind dann arkan, d.h. nicht-öffentlich. In Bünden und Gruppen mit einer gestaffelten Einweihungsstruktur sind öfters nur die oberen Einweihungsinhalte wirklich geheim, zuweilen auch nur Inhalte, die gesellschaftlich missverständlich oder anstößig erscheinen könnten (wie die sexualmagischen Lehren und Rituale mancher neomagischer Orden). Oft