Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
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Wenn nun in Hinsicht auf Brot und Schauspiele unsere Geschichtsquellen den Tatbestand hinlänglich genau schildern, so werden wir dafür über tausend andere Umstände, welche das Bild des damaligen Roms vervollständigen müssten, vollkommen im Dunkel gelassen. Die Kapitalfrage zum Beispiel, welches das Zahlenverhältnis der Sklaven zu den Freien war, ist nicht einmal annähernd zu beantworten, und die versuchten Annahmen885 gehen weit auseinander. Da und dort öffnet sich ein Abgrund vor den Augen des Forschers und gestattet einen Einblick in jenes Mittelding von Staatsfabrik und Galeere, wo für öffentliche Bedürfnisse gearbeitet wurde. So die grossen Bäckereien für die allgemeinen Brotverteilungen886; die Vorsteher derselben (mancipes) hatten im Lauf der Zeit Wirtschaften und Bordelle darangebaut, aus welchen mancher Unvorsichtige plötzlich in die Fabrik geschleppt und dort auf Lebenszeit als Sklave eingestellt wurde; wem dies geschah, der war verschollen und die Seinigen hielten ihn für tot. Die Römer müssen um die Sache gewusst haben, wenigstens traf dies Los vorzugsweise Ausländer. Die Behörden vollends hatten so sicher Kunde davon als gewisse neuere Regierungen vom Matrosenpressen, und wenn Theodosius bei einem bestimmten Anlass dem Greuel ein Ende machte, so darf man deshalb nicht glauben, dass erst damals die Entdeckung gemacht worden sei.
Was endlich Ammian von dem Leben und Treiben der höhern Stände erzählt, erregt die unabweisbare Vermutung, dass der brave und tüchtige Mann hier einem Gefühl gekränkter Eitelkeit mehr als billig sich hingegeben habe. Als Antiochener hatte er jedenfalls kein besonderes Recht, die Römer herabzusetzen; als Hofangehöriger des Constantius und Julian aber mochte er vielleicht in den grossen römischen Familien keine sehr zuvorkommende Begegnung gefunden haben. Vieles von seinen Klagen geht auf die Untugenden, welche man den Reichen und Vornehmen zu jeder Zeit und überall zugeschrieben hat; anderes bezieht sich auf jene Zeit überhaupt. Ammian klagt über die monumentale Sucht nach vergoldeten Ehrenstatuen, während dasselbe Geschlecht sich im vergänglichsten Modetand, in der tiefsten Verweichlichung gefällt; er brandmarkt jene fatale Art, die vorgestellten Fremden nach dem ersten Besuch nicht mehr kennen zu wollen, und solchen, die man nach längerer Abwesenheit wiedersieht, zu verraten, dass man sie nicht vermisst habe. Er schildert die Unsitte jener Gastmähler, die man nur gibt, um niemandem etwas schuldig zu bleiben, und wobei die Nomenclatoren (eine Art von Zeremonienmeistern aus dem Sklavenstande) bisweilen gegen ein Trinkgeld gemeine Leute unterschieben. Schon zu Juvenals Zeiten hatte die Eitelkeit mancher etwas darin gesucht, halsbrechend schnell zu fahren und sich für die eigenen wie für die Zirkuspferde zu fanatisieren; auch dies dauerte noch fort. Viele erschienen öffentlich nicht anders als mit einer ganzen Prozession von Dienern und Hausgenossen, »unter dem Kommando der Hausmeister mit Stäben zieht zunächst am Wagen einher die ganze Schar der Webesklaven, dann in schwarzer Tracht die Küchensklaven, ferner die übrige Dienerschaft des Hauses, untermischt mit müssigem Volk aus der Nachbarschaft; den ganzen Zug schliesst ein Heer von Verschnittenen jedes Alters, vom Greise bis zum Knaben, alles sieche und entstellte Figuren«. – Zu Hause aber musste selbst in den bessern Familien, wie jetzt bei uns, die Musik eine Menge gesellschaftlicher Lücken verdecken. Da ertönte unaufhörlich Gesang und Saitenspiel; »statt des Philosophen wird der Sänger berufen, statt des Redners der Lehrer vergnüglicher Künste; während die Bibliotheken wie Gräber geschlossen stehen, werden Wasserorgeln gebaut und Lyren so gross wie Stadtkutschen«. Der Eifer für das Theater war auch den Vornehmen in hohem Grade eigen, und die Koketterie mancher Dame bestand ausdrücklich darin, theatralische Attitüden in leichter Abwechselung nachzuahmen. Auch die äussere Gebärde sollte noch immer ein Kunstwerk sein; Ammian kannte einen Stadtpräfekten Lampadius, welcher es übel aufnahm, wenn man das Stilgefühl nicht bemerkte, mit welchem er auszuspucken pflegte. – Das Klienten- und Parasitenwesen mochte seine Gestalt seit Juvenals Zeiten nicht viel verändert haben, ebenso die Erbschleicherei bei Kinderlosen und so manche andere Sünden der frühern Kaiserzeit; es muss aber mit grossem Nachdruck hervorgehoben werden, dass Ammian trotz seiner übeln Stimmung von jenen kolossalen Lastern und Verbrechen, die Juvenal züchtigt, fast gänzlich schweigt. Das Christentum war hier kaum beteiligt; die grosse Veränderung in den Gemütern, welche den neuen Standpunkt der Moralität hervorrief, war schon im dritten Jahrhundert eingetreten (S. 316 ff.).
Diese vornehme Gesellschaft gibt sich noch als eine heidnische zu erkennen, zunächst durch ihren Aberglauben; sobald es sich zum Beispiel um Testamente und Erbschaften handelt, werden die Haruspices gerufen, um in den Eingeweiden der Tiere Bescheid zu suchen; ja, ganz Ungläubige mögen doch weder über die Strasse, noch zu Tische, noch ins Bad gehen, ohne sich in der Ephemeris, dem astrologischen Kalender, nach dem Stand der Gestirne umzusehen887. Wir wissen aus andern Quellen, dass namentlich die grosse Mehrzahl des Senates bis auf die Zeiten des Theodosius heidnisch war888. Man tat alles mögliche, um die Priestertümer und Zeremonien vollständig zu erhalten; wie viel Mühe und Kummer hat es sich zum Beispiel Symmachus kosten lassen889! Allein neben den öffentlichen Sacra wurden auch die Geheimdienste von den angesehensten Römern des vierten Jahrhunderts mit dem grössten Eifer betrieben, und zwar, wie oben (S. 256 f.) bemerkt, in einer eigentümlichen Verschmelzung. Indem der einzelne womöglich alle üblichen Geheimweihen auf sich nahm, wollte er sich stärken und zusammennehmen gegen das überall vordringende Christentum890.
Alles erwogen, möchte dieser heidnische Senat von Rom noch immer die achtungswerteste Versammlung und Gesellschaft des Reiches gewesen sein. Trotz den Übelreden Ammians müssen sich hier noch sehr viele Männer – Provinzialen wie Stadtrömer – von tüchtiger, altrömischer Gesinnung gefunden haben, in deren Familien gewisse Überlieferungen herrschend waren, welche man in Alexandrien und Antiochien oder gar in Konstantinopel vergebens gesucht hätte. Vor allem achteten die Senatoren selber den Senat – asylum mundi totius891. Sie verlangten noch einen eigenen, einfach ernsten Redestil892, der nichts Theatralisches haben durfte; überall sucht man wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, als ob Rom noch das alte und der Römer noch Bürger wäre893. Es sind wohl nur grosse Worte, wenn man will, aber einige treten doch auf, deren Schuld es nicht ist, wenn keine grossen Dinge mehr daraus entstehen894. Bei Symmachus selber erscheint der Mut der Fürsprache für Bedrängte895 höchst achtungswert und wiegt, ähnlich wie der Patriotismus des Eumenius (S. 103 ff.), die unvermeidlichen Schmeichelformen wohl auf, denen er sich anderwärts unterzieht. Als grosser, unabhängiger Herr war er persönlich über die Titulaturen hinaus896, welche so manchen glücklich machten.
Die höhere Bildung, die in diesen Kreisen waltete, darf man so wenig als das übrige buchstäblich nach den Aussagen Ammians beurteilen, der den Römern keine andere Lektüre zugesteht, als den Juvenal und die Kaisergeschichte des Marius Maximus, wovon bekanntlich die erste Hälfte der Historia Augusta eine dürftige Bearbeitung ist. Auf das literarische Stelldichein beim Friedenstempel (wo sich auch eine der achtundzwanzig öffentlichen Bibliotheken befand) ist nicht viel zu geben, indem dort sogar ein Trebellius Pollio mit seiner Ware auftreten durfte897.