Der Sklave. Jürg Brändli

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Der Sklave - Jürg Brändli

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Scham, die ihn davon abhielt, diesen Teil seiner Persönlichkeit öffentlich zu machen. Zu arg kollidierte er mit den seelischen Erfordernissen seiner Erziehung. Sein Kreatives war dem Unsensiblen nicht gewachsen, wie es das Protestantische für ihn überall bereithielt. Kam es hingegen vor, dass er mit seinen klandestinen Leidenschaften tatsächlich auf fremdes Interesse stiess, bei Verwandten, bei Lehrern oder bei Freunden seiner Eltern, dann fand sich Hebeisen stets in der Rolle desjenigen wieder, der sein Werk zu schützen hatte wie einen hochempfindlichen Film, dem Zerstörung durch Überbelichtung drohte, so sehr fürchtete er sich damals vor falscher Aufmerksamkeit, vor der Entweihung seines Unabhängigsten durch den Inzest.

      Im engen Refugium gab es auch eine Musikanlage, einen Plattenspieler mit Radio und zwei zugehörigen Boxen. Abends hörte Hebeisen hier «Sounds», die Sendung mit François Mürner auf DRS3. Bei der ersten Schallplatte, die er in einem alternativen Musikgeschäft in Zürich kaufte, handelte es sich um die Maxisingle «Eloise», nämlich in der Version von The Damned, und «Paris, Texas», der Film von Wim Wenders, weckte Hebeisens tiefere Leidenschaft fürs Kino, nachdem das aufsehenerregende Werk seinerzeit in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte.

      Sein Atelier war Hebeisens Gummizelle, die der Unliebsame eingerichtet hatte, um den Rest der Familie vor seiner Pubertät zu bewahren.

      Von Zeit zu Zeit hielt er auf seinen Leinwänden die Aussicht fest, die ihm das kleine Mansardenfenster bot: den Hain und die Dächer des Quartiers, nämlich im Licht der verschiedenen Jahreszeiten. Dazu benutzte er Rahmglacéfarben, die er auf seiner Sperrholzpalette anrührte wie Tonglasur. Auf den Sims neben dem Aschenbecher streute er hie und da Körner, um damit die Amseln und die Spatzen zu füttern. Das Mansardenfenster lag zufälligerweise nach Norden. Hebeisen war stolz darauf, denn er hatte gehört, dass viele berühmte Künstler bei nördlichem Lichteinfall gemalt hatten, weil es dann im Atelier keine wandernden Schatten gab, die das Resultat auf der Leinwand verfälschen konnten.

      Die Zeitungen berichteten über Tschernobyl, über den Borkenkäfer und übers Waldsterben.

      Das familiäre Mobbing hörte auf zum Preis, dass Hebeisen sich im Alltag nun selbst verletzte.

      Es war die Zeit, in der er anfing, sich um sein Äusseres zu kümmern.

       4

      Hebeisen hatte jung ein schmales und dunkles indianisches Gesicht mit schönen Zügen und vollen männlichen Lippen. Sein magischer Blick entsprang schwarzbraunen Augen. Er hatte dunkle gerade Haare, die ihm etwas Abenteuerliches verliehen, weil er sie schulterlang trug. Er wusste, dass er durch sein Äusseres auffiel. Gleichzeitig haftete seinem guten Aussehen etwas Eigenbrötlerisches an: eine exotische Verletzlichkeit, ein Nimbus von Unschuld, eine fast schon heiligenhafte Unnahbarkeit. Seine ganze Person war von kontrolliertem, rundem Wesen.

      In seiner Jugend mochte er braune Lederjacken mit Wollstössen, die ihm etwas vom arktischen Pionier verliehen. Dazu trug er meistens Bluejeans und Turnschuhe von Adidas, nämlich aus abgewetztem, knochenweissem Leder und mit himmelblauen Streifen. Lange besorgte ihm die Mutter seine Hemden, die er unter ärmellosen Pullovern trug. Es gab eine Phase, da gefiel er sich mit Beret. Im Winter trug er dicke, uneitle Wollschals. Indem er gerne einen legèren Eindruck machte, hatte er lange Zeit etwas von einem ungelenken, französischen Sozialisten. Damals hätte man sich nicht gewundert, ihn in einem Boulevardcafé beim Schreiben von Literatur und beim Trinken von Pastis anzutreffen. Ein Stückweit handelte es sich jedoch um Verkleidung. Das Frühlingshafte an der Kluft seiner Jugendzeit sollte über jene Schwermut hinwegtäuschen, die in ihm hockte wie ein unerklärliches Schuldgefühl, nämlich seit er denken konnte, und die er deshalb mit sich herumschleppte wie eine unsichtbare Sträflingskugel.

      Ein Arzt hatte ihm einmal vom Unglück erzählt, das eine fehlgeschlagene Injektion bei einem Patienten verursachen sollte: Das Serum habe sich nach dem Einspritzen, anstatt im ganzen Körper heilende Wirkung zu entfalten, in einer einzigen Blase gesammelt, um im Fleisch nichts weiter zu verursachen als schrecklichen Schmerz. Das Bild schoss Hebeisen immer dann in den Kopf, wenn er an seine Erziehung denken musste. Es war ein Gift, das sein Organismus Zeit seines Lebens abgestossen hatte. Er wollte kein Teil jener Sache sein, die sie das Protestantische nannten. Immer musste er an diese Zeile aus dem Song von Supertramp denken, «You take a long way home», und daran, wie sehr ihn der Inhalt ärgerte. Er war nicht homosexuell. Das Leben, das vor ihm lag, sollte nicht bloss einen spasshaften Umweg bilden auf dem Weg zurück nach Hause und zur Mutter. Er hatte vor, die halbstarke Prägung irgendwann zu verlassen, mit der ihm seine Umwelt ständig ein Bein stellte. Er war nicht einverstanden mit seinem Platz im grossen Puzzle, das man für ihn vor langer Zeit ausersehen hatte, und er wehrte sich deshalb mit Kräften dagegen, wie ihm hinterrücks und in Respektlosigkeit die nötigen Kanten abgeschlagen wurden, damit er ihn trotzdem irgendwann ausfüllen konnte. Er wollte sein eigener Puzzleteil werden, um im Laufe seines Lebens jene Lücke zu finden, in die er tatsächlich passte. Mochten sie ihm noch so viele Fallen stellen. Mochte es dauern, so lange es wollte. Hebeisen wollte zum eigenen Nutzen wachsen und nicht im weibischen Interesse seiner Familie. Er wollte ins Leben vorstossen und nicht in den Schoss irgendeines reformierten Inzests. Er wollte den Ödipus loswerden, mit dem er von seiner Gemeinde manipuliert wurde. Hebeisen wollte nicht bleiben. Er wollte weg.

       5

      Sie hiess Tonia Büsser und besuchte die Parallelklasse.

      Hebeisen verliebte sich in sie, als er siebzehn Jahre alt war und wie er sie zum ersten Mal sah, nämlich beim Eintritt ins Gymnasium, das sie beide an der Kantonsschule in Wetzikon besuchten.

      Das Schulhaus bestand in einem Komplex aus mehreren, verschiedenhohen Betongebäuden mit Flachdach und silbernem Dreifachkamin.

      Tonia war von selbstbewusstem Auftreten. Sie war hübsch, schlank, stark und impulsiv, stark auch durch eine Verletzlichkeit, die sie zeigen konnte. Sie hatte korallenblaue Augen, wilde schwarze Haare und einen südländischen Teint. Sie mochte Jeans und Wildlederstiefel, und sie gehörte zu den wenigen Mädchen in ihrem Alter, die sich bereits schminkten und ein erwachsenes Parfüm benutzten.

      Sie war genau wie Hebeisen, nämlich anders als der Rest.

      Ihr egozentrisches Naturell überforderte viele Jungen und Männer. Gleichzeitig verfügte sie über einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, weshalb man ihr den Egoismus verzieh.

      Von gesunder Entwicklung wusste sie mit ihrer Attraktivität früh im Leben umzugehen, ohne dabei je ihre Unschuld zu riskieren.

      Sie plante, nach der Matura ins Ausland zu gehen, am liebsten in die Vereinigten Staaten, um dort auf einer Ranch, an einer Tankstelle oder in einer Bar zu arbeiten. Mit Farbstiften entwarf sie in ihrer Freizeit kunstvolle Vorlagen für Tatoos: Raubvögel, Stars and Stripes, federgeschmückte Indianer oder die Logos von Markenbier wie Corona oder Bud. Selber trank sie am liebsten Cola light. Sie rauchte heimlich und kaute Kaugummi. An der Schule bewegte sie sich über dem Durchschnitt. Ihre einzige Schwäche war die Erwachsenheit gleichaltriger Rivalinnen.

      Tonia bewunderte Ruhe, Konzentration und Sensibilität. Es war der Grund, weshalb es zur Beziehung mit Hebeisen kam.

      Die beiden stellten fest, dass sie in vielen Ansichten übereinstimmten, die von den gängigen abwichen.

      Tonia mochte Bücher wie «Per Anhalter durch die Galaxis» oder Filme wie «Brazil».

      Bald erledigten sie gemeinsam ihre Hausaufgaben.

      Sie besuchten Konzerte in der Kulturfabrik, die sich einen Kilometer vom Gymnasium

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