Der Sklave. Jürg Brändli
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Es war das Ende ihrer harmonischen Beziehung.
Seine letzten Ferien vor der Matura verbrachte Hebeisen alleine, indem er mit dem Zug nach Amsterdam reiste und dort für zehn Tage ein billiges Hotelzimmer bezog. Es ging ihm vor allem darum, alleine zu sein.
Er ass und trank viel. Er besuchte das Rijksmuseum, wo er stundelang Rembrandts «Nachtwache» studierte sowie die kleineren Werke Vermeers. Er verbrachte einen ganzen Tag im Vincent van Gogh-Museum. Er besuchte die Destillerie, in der das berühmte Heineken-Bier gebraut wurde. Abends streunte er durchs Redlight, wo er während des ganzen Urlaubs vor dem Besuch einer Folterkammer zurückschreckte. Trotzdem fühlte er sich wohl in der Stadt. Er empfand sich aufgehoben in etwas Protestantischem, das übers Kirchliche hinausging und von dem er spürte, dass er es ernst nehmen konnte. Es hatte nicht mit den Drogen zu tun oder dem freizügigeren holländischen Umgang mit Sexualität. Der machte ihm nämlich eher zu schaffen. Hebeisen brauchte eine Weile, um sich bewusst zu werden, dass er sich vielmehr in einer Umgebung bewegte, in der eine offene Minderheitenkultur gepflegt wurde. Es führte zur unangenehmen Empfindung, dass er in einer solchen Welt bloss Zaungast war, weil es ihm bei seinem Entwicklungsstand an der nötigen Bereitschaft zum Schmerz fehlte, mit dem ein ernsthaftes Eintreten verbunden gewesen wäre. Beim einsamen Biertrinken in der spätherbstlichen Sonne musste Hebeisen oft an seine Eltern denken und daran, dass es in seinem Leben nie wirklich zu einer echten Freundschaft gekommen war. Es waren sehr erwachsene Gedanken.
Das holländische Fernsehen zeigte in einer Gewitternacht «Diamonds Are Forever», nämlich als Hebeisen auf seinem kleinen Hotelzimmer bei geöffnetem Fenster nicht einschlafen konnte. Auf seinem Nachttisch standen und lagen mehrere kleine Fläschchen von Johnny Walker. Er sah den Bond-Film nicht zum ersten Mal. Aber jetzt mochte er nicht mehr den Chauvinismus, die Homophobie, den Tanz ums Rothaarige und das Kirchliche darin, auch wenn es sich wahrscheinlich um die beste musikalische Tonspur der Serie handelte.
Im Nachtzug kehrte er nach Zürich zurück. Bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof empfand er diesmal leise Gefühle der Depression. Die alte Heimat zu erreichen, die sich dazwischen nicht verändert hatte, fühlte sich ein bisschen an wie Sterben.
7
Seit er denken konnte, war sein Vater ein schlechter Verlierer gewesen.
Wenn Heinz Hebeisen beim Tischtennisspiel gegen eines seiner Kinder unterlag, dann nur deshalb, weil er sich gerade sein Handgelenk verletzt hatte oder weil er unter sonst einer Indisponiertheit litt, die jeweils an den Haaren herbeigezogen war. Es war ein Muster, das sich im Alltag wiederholte. Wer in der Familie glaubte, sich in der Situation gegen den Vater durchgesetzt zu haben, der hatte die Rechnung ohne dessen Spiessigkeit und ohne dessen Gedächtnis gemacht. Es kam stets zurück. Heinz Hebeisen kürzte seinen Kindern dann das Taschengeld, beschämte sie vor Bekannten oder werkte ihnen anderweitig zu leide, und dies auch noch zu Zeitpunkten, an denen es für die Betroffenen längst unmöglich sein musste, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der väterlichen Aggression und dem auslösenden Ereignis. Hebeisen lernte dadurch früh, dass ein Wesenszug von Macht in Willkür bestand. Selbstverständlich führte es zu einem Klima, in dem zwischen den Generationen kein Vertrauen wachsen konnte.
Es zerstörte vieles.
So gab es unter dem Dach der Hebeisens keine Intimität. Persönliches konnte dadurch nicht zur Sprache kommen. Wer trotzdem ein sinnliches Thema aufbrachte, der riskierte, dass es für immer verdorrte unter der förmlichen Gleichbehandlung. Es konnte eine Quelle fürs Bedürfnis nach körperlicher Selbstverletzung sein, wie es Hebeisen im frühen Leben oft empfand, nämlich wenn er sich deswegen jeweils ausgerechnet in der Liebe zu spüren aufhörte. Gerade für ihn als Masochisten bedeutete es eine überaus verwirrende und belastende Komplikation seines Gefühlslebens.
Es war nicht nur so, dass Hebeisen ohne Liebe aufwuchs. Das besitzergreifende Verhalten seines Vaters entwand ihm zugleich die Mittel, um der Kälte etwas entgegenzusetzen. Die Kinder Heinz Hebeisens waren keine Individuen. Für den Vater stellten sie ganz einfach eine Erweiterung seiner eigenen Persönlichkeit dar, weshalb er ständig ihre Integrität ignorierte, vor allem jene von Christian, dem jüngsten, nämlich indem er sich gedankenlos seines Lebens selbst bediente und dadurch alle Bemühungen um Autonomie im Frühstadium zerstörte.
Grosszügigkeit wurde jenem Kind zu teil, das den Missbrauch akzeptierte und mithalf, Heinz Hebeisens Grandiosität zu finanzieren. Wer dem Vater die Selbstbestätigung hingegen verwehrte, der musste mit der strafenden Empfindung zurechtkommen, bei den eigenen Eltern bloss in Untermiete zu leben. Dann reute sie das Essen, das Geld und die Zeit.
Der fortwährende Diebstahl an Identität wog umso schwerer, als sich die Eltern dagegen in keinem Moment dazu hinreissen liessen, von ihrem eigenen Leben auch nur ein Detail preiszugeben. Bei Hebeisen hatte es stets den Eindruck erweckt, als hätten Mutter und Vater alleine in der Gegenwart existiert. Alles schien an ihnen vorbeigegangen zu sein: Kennedy, die Beatles, Vietnam, 68, Baader Meinhof, Disco. Bei den einzigen Dingen, die ihre Vergangenheit definierten, handelte es sich um die Mondlandung, um ihre Heirat und um die Geburt ihrer drei Kinder. Den Rest borgten sie sich schamlos beim Nachwuchs, denn das Vakuum wollte täglich gefüllt werden.
Es war die Summe, die Hebeisen früh dazu veranlasste, Lebenspläne zu schmieden, von denen seine Eltern keinen Teil bildeten.
Nie sollte der Sohn seinen Vater konfrontieren. Es war jedoch nicht Angst vor Schmerz, die ihn davon abhielt. Er fürchtete sich auch nicht vor jener schwerwiegenden Wehmut, von der er wusste, dass sie einem das Einstürzen der Welt der Kindheit tatsächlich verursachen konnte.
Ein wesentlicher Teil seines Vaters lebte in Hebeisen. Es war der wirkliche Grund, weshalb ihm vor einem solchen Moment der Wahrheit graute, vor einem unneurotischen Kräftemessen, das möglicherweise mit der späten Entdeckung von Eigenschaften einher gegangen wäre, die er deswegen nicht ertragen hätte: Homosexualität, Hündisches oder faule Demut. Schliesslich musste es doch einen konkreten Grund geben, warum es Hebeisen so schwer fiel, sich von seinem Vater abzulösen, um erwachsen zu werden.
8
Tonia hatte eine Gastfamilie im kalifornischen Venice gefunden, bei der sie die nächsten zwei Jahre als Au-pair unterkommen konnte, um gleichzeitig eine internationale Sprachschule zu absolvieren. Sie freute sich auf eine stürmische Zeit. Trotzdem musste sie weinen, als sie von ihren Eltern, von Hebeisen und ihrer besten Freundin an einem frühen Sonntagmorgen an den Flughafen begleitet wurde. Zu Hause hatte sie sich während der Nacht mehrmals übergeben müssen. Sie trug Tennisschuhe, Jeans, eine modische Daunenjacke und eine Yankee-Mütze, als sie unter den Blicken ihrer Liebsten eincheckte. Beim letzten Kaffee in der Bye-Bye-Bar, als es kein Zurück mehr gab, kehrte endlich die Farbe wieder in ihr Gesicht, und sie begann sich auf den Flug und auf die erwachsene Herausforderung, die vor ihr lag, zu freuen. Tonia und Hebeisen umarmten sich lange und verabschiedeten sich schliesslich mit drei Wangenküssen. Dann verschwand sie in der Zollkontrolle. Von der Besucherterrasse aus verfolgten es die Zurückbleibenden mit, wie ihre Maschine, eine Boeing von American Airlines, eine Stunde später steil in die grauen Wolken hinaufstach. Die Mutter winkte. Hebeisen drückte Tonia in der kalten Morgenluft die Daumen und spürte im selben Augenblick, dass er sie insgeheim beneidete.
Wenige Tage später begann sein Studium.
Die Vorlesungen, die persönlichen Professorengespräche