Der Sklave. Jürg Brändli

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Der Sklave - Jürg Brändli

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Hebeisen schon nach wenigen Tagen wohlfühlte im neuen Rhythmus, in den er sich deswegen einfinden musste. Die Bibliothek in der rechtswissenschaftlichen Fakultät avancierte schnell zu einem seiner Lieblingsorte. Sie war nach den Plänen des bekannten spanischen Architekten Santiago Calatrava erneuert worden. Der grosszügige Bau regte Hebeisen zu philosophischem Denken an. Wenn er sich darin aufhielt, dann tauchten vor seinem geistigen Auge stets die schwarzweissen Bibliothekszenen aus Wenders’ «Himmel über Berlin» auf. Von unten sieht der Mensch nichts ausser dem Himmel, stellte er nach jedem Eintreten fest. Von oben hingegen sieht er alles, dachte Hebeisen weiter, wenn er sich hinter einem der modernen Balkone jeweils niederliess, um in Konzentration sein Bücherstudium aufzunehmen: die Menschen auf allen sieben Levels, und es gibt keinen Himmel.

      Jeden Morgen nahm er die Strassenbahn mit der Nummer neun.

      Er lebte in einer kleinen Wohnung mit Fenster zum Kappelerhof und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zum oberen Teil der Bahnhofstrasse. Er wusste nicht, womit er es verdient hatte. Er hatte sich schriftlich um die günstigen und zentral gelegenen zwei Zimmer beworben, wobei er sich unter hunderten von Mitinteressenten gewähnt hatte. Ein Monat vor Studiumsanfang war ihm zur eigenen Überraschung der Mietvertrag zugegangen, und inzwischen hatte er das alte, gepflegte, aber unrenovierte Refugium mit einem Bett und einem Schreibtisch ausgestattet. Im Erker des Wohnzimmers stand ein geschmackvoller dunkler Fauteuil, den Hebeisen im Brockenhaus der Heilsarmee gekauft hatte. Seither genoss er das Stillleben, welches das Möbel jeden Morgen abgab, wenn er erwachte und es vom Apricot der Frühsonne gestreift wurde. Wenn es stark regnete, musste in der Kochnische ein blecherner Eimer untergestellt werden. In die Zimmertüren war blindes scheckiges Glas eingelassen. Im Bad konnte man sich an weiss verputzten Heizungsleitungen den Kopf stossen. Noch vor Hebeisens Einzug war auf dem schmalen kalten Korridor ein Bild von Albert Anker aufgehängt worden. Überall roch es nach Bienenwachs.

      Hebeisen liebte den Ort.

      An der Universität schloss er Freundschaft mit Sebastian. Der Mitstudent war im gleichen Alter wie Hebeisen, jedoch einen Kopf kleiner als er. Er trug gerne weisse Kleider. Seine Eloquenz und sein Humor rückten den Gutaussehenden überall in den Mittelpunkt, ohne dass er es wirklich suchte. Alles, was er tat, ob im Auditorium oder zwischen den Stunden, verriet ein hohes Mass an Intelligenz. Es war sonnenklar, dass er einmal ein erfolgreicher Anwalt werden würde. Es war seine Unabhängigkeit, die ihn dazu prädestinierte. Dazu gehörte, dass er sich in den Pausen gerne zurückzog, um alleine zu sein. Dann fläzte er sich jeweils auf einen Fenstersims, trank seinen Automatenkaffee und vertiefte sich in eine mitgebrachte Zeitung, in den «Spiegel» oder in den «Focus». Es war ein Verhalten, das sich mit jenem von Hebeisen deckte. Immer öfter traf es sich, dass sie in ihrem Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit dieselben Orte aufsuchten.

      Die stille Bruderschaft im Geist sollte innert Kürze in eine konkrete Männerbeziehung münden.

      Fast jede Woche tranken sie gemeinsam ein Bier im «Odeon», wobei sie sich von den Homosexuellen fernhielten, weil ihre Gegenwart Sebastian befing. Hebeisen musste feststellen, dass ihm sein Freund überlegen war, was ihn nicht störte, denn er fühlte sich bei ihm geborgen.

      Sebastian mochte die Deutsche Mentalität. Er lebte bei seinen Eltern in Küsnacht, weshalb es sich ergeben sollte, dass er des Öfteren bei Hebeisen übernachtete. Hier rauchte er hie und da eine Zigarette. Obwohl es ihm selbst an nichts fehlte, beneidete er seinen Freund um dessen zentrale Wohnung und ums Bohemische, das sie ihm verlieh. Er fand, dass es Hebeisen hervorragend stand.

      Sie besuchten Aufführungen im Schauspielhaus und Konzerte im Hallenstadion. Schliesslich sollte es sogar zu einem gemeinsamen Wochenende in Paris kommen, wohin sie im TGV verreisten. Sie besuchten das Moulin Rouge, liessen sich von den fliegenden Künstlern im Montmartre-Quartier porträtieren und erledigten getrennte Einkäufe in Les Halles. Am Vorabend ihrer Rückreise, beim Kaffee in der Sonne unterhalb von Sacré Coeur, liess sich Sebastian von der zwischen ihnen herrschenden Vertraulichkeit zu einem Coming-out hinreissen, und er gestand Hebeisen, dass er schwul war.

      «Cool», lautete Hebeisens entspannte Antwort.

      Die Befürchtung, Sebastian könnte sich in Bezug auf ihn falsche Hoffnungen gemacht haben, zerschlug sich auf dem Weg zurück ins Hotel.

      Danach verloren sich die beiden an der Universität zunehmend aus den Augen, aber nicht im Schlechten. Es schien, als hätte ihre vorübergehende Freundschaft genau darin ihre Erfüllung gefunden und als wäre Hebeisen vom andern instinktiv dazu ausgesucht worden. Jedenfalls sollte Sebastian auf dem Campus kurz darauf einen Freund finden. Es störte Hebeisen nicht, wenngleich er leise Bitterkeit empfand beim Anblick des Paares, weil sich dessen Sexualität, genau wie bei normalen Heterosexuellen, alleine durch seinen Auftritt mitteilte. Für ihn selbst würde es im Leben schwieriger werden, in Gesellschaft anerkannt zu werden, wenn er sich seine Einstellung nicht auf die Stirn tätowieren wollte. Mochte sein Coming-out für Sebastian im Leben eine Erleichterung gebracht haben, für Hebeisen war es mit einem leisen Unschuldsverlust einher gegangen. Er hatte sich in der Situation nämlich ausser Stande gefühlt, das intime Geständnis zu erwidern, weil es ihm beim Gedanken an die eigene geschlechtliche Identität schlicht an der Leichtigkeit fehlte, wie sie Sebastian an den Tag gelegt hatte. Lange hatte er geglaubt, die Hemmung gründete in Scham. Scham bildete zwar einen Teil des Gefühls. Aber es war ihm auch zu Bewusstsein gekommen, dass die unneurotische Beziehung zwischen einem Homosexuellen und einem Menschen von seiner Art ein Gefälle mit sich brachte, das für ihn nicht mehr länger erträglich war, weil es von seiner Seite her ein Zuviel an Vertrauen voraussetzte. Der Homosexuelle, musste Hebeisen schmerzlich zur Kenntnis nehmen, war stärker als er und zählte in einer erwachsenen Welt zu seinen natürlichen Feinden. In sozialer Hinsicht ging Hebeisen beim eigenen Coming-out also ein viel grösseres Risiko ein. Er war eben nicht nur anders, sondern auch Teil einer Minderheit. Die Ahnung streifte Hebeisen, dass ein Coming-out für ihn mit weit mehr verbunden sein würde als mit dem blossen Aussprechen der Wahrheit in einem vertrauensseligen Moment. Das Faktum beschäftige Hebeisen stark, legte einen Schatten auf sein Herz und vergrösserte seine innere Einsamkeit.

      Er war nicht wirklich offen für eine neue Beziehung.

      Wenn er nächtens alleine im Bett lag, musste er an seinen Urlaub in Amsterdam zurückdenken und daran, dass er es verpasst hatte, sich in einem erotischen Kerker einer Domina auszuliefern. Es quälte ihn eine anonyme Sehnsucht. Ein verbotenes Magma der sexuellen Fantasie umglühte sein Bewusstsein und bedrohte seine Selbstbeherrschung. Hebeisen fürchtete sich davor, die Tür auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. Trotzdem überblätterte er in der Zeitung neuerdings nicht mehr die Sexanzeigen und stachen ihm die Werbungen für sadomasochistische Dienstleistungen ins Auge.

      Ziellos schlenderte er durch Erotikshops und liess sich in den SM-Abteilungen vom Anblick des Spielzeugs, der Instrumente und der schwarzen Möbel erregen.

      Er wollte sich selbst akzeptieren, um frei zu werden für ein normales Leben und für eine Beziehung, die seiner Persönlichkeit entsprach.

      Die Tatsache, dass er als angehender Erwachsener für seine Sexualität noch über kein geeignetes Ventil verfügte, verursachte ihm zuweilen geradezu panische Schübe. Es kultivierte einen Exhibitionismus, den er gleichzeitig verzweifelt zu unterdrücken versuchte. Es äusserte sich in einem auffälligen, aber unbewussten Hang zu Intimitäten.

      Er las «Venus im Pelz» von Leopold von Sacher-Masoch und fand Gefallen daran, nicht zuletzt an der schönen verlegerischen Ausgabe. Die Werke von Marquis de Sade erregten in ihm hingegen einen tiefen Ekel, vor allem die darin beschriebene gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen. Er las die Bücher abends und am Wochenende im Bett und nahm sie, im Gegensatz zu anderen Lektüren, nicht mit ins Café oder an den See. Er setzte sich während jener Zeit gerne ins «Strozzis» im benachbarten Centralhof oder, je nachdem wenn die Sonne schien, auf eine der zahlreichen Bänke am General Guisan-Quai, wo man zwischen den Kapiteln

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