Der Sklave. Jürg Brändli
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Als sie zum ersten Mal miteinander schliefen, taten sie es im Freien, am nächtlichen Ufer des Egelsees, wohin sie ein romantischer Spaziergang geführt hatte, nachdem sie in Zürich einer Aufführung der «Rocky Horror Show» im Volkshaus beigewohnt hatten. Es war am Anfang der Sommerferien gewesen, und Tonia und Hebeisen, die darauf nicht vorbereitet gewesen waren, hatten immer noch den Reis in Haaren und Kleidern, den die Fans aus dem Parkett während der Darbietung auf die Bühne geworfen hatten. Erst im Morgengrauen kehrten sie barfuss nach Rüti zurück, wo sie sich verabschiedeten und Tonia den ersten Zug nach Wetzikon bestieg.
Ein Jahr später kam es in der Kulturfabrik zur Vernissage. Eine Ausstellung, die mit Musik von The Jesus and Mary Chain untermalt war – «Just like honey…» –, zeigte insgesamt fünfzehn seiner Bilder. Die Veranstaltung verhalf Hebeisen in der Region zu einer gewissen Bekanntheit unter den Szenengängern seines Alters. Im «Zürcher Oberländer» erschien deswegen eine Notiz mit Foto.
Es befreite Hebeisen ein Stückweit von seinem künstlerischen Ehrgeiz. Die Idee, sich in seinem Leben in absehbarer Zeit den Rechtswissenschaften zuzuwenden, erschien ihm danach nicht mehr ganz so bourgeois.
Wochen später lagen sie zusammen in Tonias Bett.
Wie es sich denn eigentlich anfühle, ein Künstler zu sein, wollte sie völlig unvermittelt von ihm wissen. Sie teilten sich eine kalte Dose Bier, die sie auf dem Weg zu Tonias Elternhaus am Kiosk gekauft hatten. Sie hatten beide nasse Haare vom Duschen, und Tonia trug einen verwaschenen Mickey Mouse-Trainer. Auf einer Kommode glimmte ein Räucherstäbchen und verströmte süssen Seifenduft.
«Als hätte man diesen schwarzen Monolithen in sich drin», erklärte Hebeisen, nachdem er lange über die Frage nachgedacht hatte, «jenen aus Kubricks ‚2001’.» Sie hatten den philosophischen Weltraumklassiker erst kürzlich gemeinsam am Fernsehen angeschaut. «Es handelt sich um eine Form der Unberührbarkeit, die einen ständig vor die Wahl stellt: Entweder man arbeitet seiner Unabhängigkeit gemäss und verletzt sich selbst im Masse, wie man der Welt Schmerzen zufügt. Oder man verschont die andern und verstösst ausschliesslich gegen sich selber, was einen dann tötet. Weh tut es in jedem Fall, denn der Monolith ist weder zu biegen noch zu brechen.»
Tonia war beeindruckt. Das Geständnis war von einer Tiefe, mit der sie nicht gerechnet hatte.
Hebeisen selbst wurde bei seinen Worten klar, dass sie ihn nicht nur als Maler definierten, sondern dass ihm auch eine Beschreibung dessen gelungen war, was ihn am Gesetz faszinierte und damit am Métier des Anwalts, nämlich die Verteidigung des menschlich Absoluten.
Als es für die Schule in den nächsten Tagen darum ging, ein persönliches Vortragsthema auszuwählen, entschied sich Hebeisen fürs Ereignis der Nürnberger Prozesse, dem Verfahren gegen zweiundzwanzig Kriegsverbrecher des nationalsozialistischen Deutschlands, das am 20. November 1945 seinen Anfang nahm und am 1. Oktober 1946 unter anderem mit zwölf Todesurteilen endete. Hebeisen hatte auf Sky Channel eine Dokumentation über den historischen Prozess gesehen. Seither liessen ihn die Fakten der Verhandlung, die er sich spontan notiert hatte, nicht mehr los. Die Anklagepunkte vor dem internationalen Gerichtshof hatten damals gelautet: Verbrechen gegen den Frieden, nämlich durch die Vorbereitung und die Führung eines Angriffskriegs. Dann: Kriegsverbrechen und damit die Misshandlung und die Ermordung von Kriegsgefangenen, die Tötung von Geiseln, die Misshandlung von Zivilisten sowie deren Verschleppung zu Zwangsarbeit. Und schliesslich: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich durch die Versklavung und die Ausrottung von ganzen Menschengruppen.
Hebeisens mündlicher Präsentation in der Klasse, die neunzig Minuten lang dauerte und in die er eine Vielzahl von Hellraumprojektionen einbezog, widerfuhr höchste Benotung durch den Geschichtslehrer.
Die intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand führte im Leben des Neunzehnjährigen dazu, dass er sich definitiv zu einem Jurastudium an der Universität Zürich entschloss.
6
In Tonias Vortrag war es um die Entstehung der legendären Golden Gate Bridge in der Bucht von San Francisco gegangen. Nachdem Hebeisen ihr ein Jahr lang kaum von der Seite gewichen war.
– sie hatten beinahe jedes Wochenende miteinander verbracht, waren mit dem Fahrrad den Zeltplätzen der Innerschweiz nachgereist, und Hebeisen hatte seine Freundin im Atelier mehrmals in Ölfarben porträtiert, einmal sogar nackt –, trieben die Recherchen für diese mündliche Arbeit seit langem wieder einmal einen Keil zwischen die beiden Verliebten, sowohl räumlich wie geistig. Auch bei Tonia führte es zur Konkretisierung von Zukunftswünschen. Sie nahm es in Angriff, sich um eine Green Card zu kümmern, um sich nach der Matura tatsächlich den amerikanischen Traum zu erfüllen, und informierte sich deshalb in Büchern und Reiseführern über das Leben an der Ost- und Westküste der Vereinigten Staaten.
Es war etwas, von dem sie Hebeisen nicht allzu viel erzählte.
Auf beiden Seiten begannen sich jene schmerzlichen Symptome zu häufen, die das Ende ihrer Beziehung markierten.
Als Hebeisen an einem der kommenden Samstage alleine den Flohmarkt in der Zürcher Stadthausanlage aufsuchte, um wie gewohnt durch das antiquarische Angebot an Bildbänden und Malutensilien zu stöbern, sollte er eine folgenschwere Entdeckung machen.
Zwischen den schweren Kunstbüchern steckte eine abgegriffene Ausgabe der «Geschichte der O» von Pauline Réage.
Die Titelillustration verschlug Hebeisen für Momente den Atem.
Sie zeigte eine halbnackte bleiche Frau in goldenen Fesseln und in einem aufgerissenen Rokoko-Kleid. Ihre Augen waren der schönen Sklavin verbunden worden.
Der Händler verlangte fünf Franken für die erotische Lektüre, der Preis stand mit Bleistift auf die Innenseite des Buchdeckels geschrieben. Hebeisen entfernte den dunkelgrünen Schutzumschlag, so dass dem Buch seine erwachsene Natur nicht mehr anzusehen war, und bezahlte klopfenden Herzens.
Hebeisen sollte die Geschichte nie zu Ende lesen.
Der Text war ihm zu altmodisch, zu trivial und zu prätentiös.
Trotzdem wühlte ihn die Existenz des Buches auf.
Irgendetwas in ihm drin hatte Leck geschlagen, als er darauf gestossen war, und die Tatsache erfüllte sein Empfinden neuerdings mit einer dunklen, unerklärlichen Schwäche. Es handelte sich um etwas, worüber er mit niemandem reden konnte. Zuletzt mit Tonia. Bei den Gedanken, die ihm im Zusammenhang durch den Kopf schossen, fühlte er sich nämlich schmutzig und pervers.
Die diffuse Not wich bald der Erkenntnis, dass seine erwachsenen sexuellen Wünsche mit der Realität seiner aktuellen Beziehung kollidierten. In seinen Fantasien identifizierte sich Hebeisen mit der devoten «O». Seine wahre geschlechtliche Identität wartete demnach auf der passiven Seite auf ihn.
Nach mehreren erotischen Erlebnissen mit sich alleine, die ihn gleichsam erlösten wie erniedrigten, kam Hebeisen zum Schluss, dass er ein Sklave war.
Als Tonia anrief, um ihm nicht ohne Traurigkeit mitzuteilen, dass es besser sei, wenn