Der Sklave. Jürg Brändli

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Der Sklave - Jürg Brändli

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Vertrag, ohne viel zu überlegen. Ein erfülltes Berufs- und Privatleben nahm damit zu Beginn der Siebzigerjahre seinen Anfang.

      Susi, das erste Kind, kam 1970 zur Welt. Dieter folgte zwei Jahre später, und Sohn Christian wurde als Nachzügler 1976 geboren.

      Die Grendelmeiers waren in der Idylle über Jahrzehnte immer wieder zu Gast, und zwar auch noch als der Vater sein Soll an Wiederholungskursen längst erfüllt hatte. Die Gattin von Harald hiess Yvonne. Sie war von vernachlässigter Schönheit, der bürgerliche Typ, spröde und sportlich aus der Jugend. Sie war laut und humorvoll auf eine oberflächliche Weise, ihr dichtes graues Haar trug sie mit goldener Blondierung, und im Sommer kleidete sie sich stets mit modern gemusterten, ärmellosen Blousen und dunkelblauen Jupes.

      Harald Grendelmeier genoss die Einladungen zu den Gartenfesten im kleinen Kreis jeweils ganz besonders, denn er hatte eine Schwäche, nämlich die Sehnsucht nach den einfacheren Verhältnissen seiner Kindheit: Minigolf, Bratwurstgrillade, Sauerrahmkartoffeln und Weisswein vom Zürichsee. Tochter Susi, Pferdeschwanz und Kurzarmpullover, spielte nach dem Eindunkeln jeweils ein Lied auf der Handorgel, dies im bunten Schein der Becherkerzen. Bruder Dieter, im Jimmy Hendrix-T-Shirt, rauchte bei den Gelegenheiten stets eine Gitanes, weil sich der Vater für einmal keine Blösse geben konnte und es dem kinderlosen Grendelmeier die Chance gab, den antiautoritären Mann von Welt zu spielen und den jungen Erwachsenen zu seinem Laster zu beglückwünschen.

      Heinz Hebeisen seinerseits absolvierte in der Grillschürze jeweils einen Auftritt von kindischer Dienstbarkeit.

      Irgendwann wurde ihm klar, dass er mit Christian, seinem jüngsten, in der Runde punkten konnte, und er fing an, ihn mit all seinen Talenten vorzuschicken, um den noblen Gästen im Namen der Familie zu imponieren: mit seiner Musik, seinen Bildern und den persönlichen Gedanken dahinter, von denen das Kind wusste, dass sie dem Vater in Wahrheit nichts wert waren, es sei denn, er konnte in irgendeiner Weise an der Wirkung partizipieren, die sie bei andern auslösten. Tatsächlich sollte Grendelmeier auf die aussergewöhnliche Natur von Christian Hebeisen aufmerksam werden, spätestens als er ins Pubertätsalter kam. Christian Hebeisen mochte Grendelmeier nicht. Dessen prüfendes Auge. Das Kind war feinfühliger als der Vater, und Christian spürte, dass die fehlende Sensibilität Heinz Hebeisens Grendelmeier verletzte, ohne dass es der Gast zeigte. Es war Christian unangenehm. Es machte Grendelmeier in seinen Augen zu einem Menschen, bei dem man nicht wissen konnte, woran man in Wirklichkeit war. Als es zu Gegeneinladungen ins Gut der Grendelmeiers kam, das sich am Hallwylersee befand und in dem es Bedienstete gab, sollte der zwölfjährige Christian den Anlässen stets fernbleiben. Dann täuschte er Migräne vor oder blieb unauffindbar, weil er sich vorsorglich zu den Tankkesseln am Bahngleis zurückgezogen hatte.

      Er wusste nicht, worin das Unbehagen gründete, das ihm die Gegenwart des mächtigen Bekannten seines Vaters auslöste. Er konnte es sich nicht erklären. Jedoch handelte es sich um eine Angst, die noch viele Begegnungen in seinem Leben begleiten sollte. Christian Hebeisen wusste noch nicht, dass es sich um genozidale Spiessigkeit handelte: um seinen eigenen Tod auf den Stockzähnen des Klemmsadisten. Er wusste noch nicht, dass es in der Schweiz auch nach dem Krieg so etwas wie den Gauleiter gab. Hingegen wuchs in ihm das tiefere und schreckliche Bewusstsein, dass ihm seine Eltern, aber insbesondere sein Vater, im Leben nie eine Hilfe sein konnten.

      Heinz Hebeisen nahm die schönen Jahre, die jeder finanziellen Sorge bar bleiben sollten, in seiner Unschuld als ein Geschenk. Nie stellte er sich die Frage, ob der erfahrene Segen, der in der Referenz seines militärischen Vorgesetzten gründete, jemals ein Opfer fordern könnte.

       10

      Als Debora Kellenberger in sein Leben trat, war Christian Hebeisen damit beschäftigt, über «Philadelphia» nachzudenken, über das Gerichtsdrama von Adrian Lyne, in dem Tom Hanks einen entlassenen HIV-Positiven spielt. Hebeisen war am Vorabend seit langem wieder einmal mit Sebastian ins Reprisenkino gegangen, denn es handelte sich beim Film um einen Tip, der an der juristischen Fakultät seit Wochen die Runde machte. Tatsächlich hatte die Geschichte Hebeisen berührt. Vom Aspekt der Ungerechtigkeit, wie sie im täglichen Erwerbsleben den Vertretern von Minderheitensexualität widerfuhr, fühlte er sich ganz persönlich angesprochen. Es hatte sein Interesse am Arbeitsrecht geweckt.

      Es war Mittag, und er sass alleine an einem Gartentisch im Rechbergpark unter den schattigen Bäumen, in der steilen Grünzone östlich der Universität. Er las im Schweizerischen Strafgesetzbuch und markierte relevante Textstellen mit einem bunten Breitstift.

      Wenn er aufblickte, dann fiel sein Blick auf die Treppen, die Kieswege und die Kegeltannen der gepflegten Anlage. Es war heiss, die Grillen zirpten, und aus den geöffneten Fenstern des nahen Konservatoriums drangen Abschnitte von unbeholfenem Pianospiel zu ihm herüber. Als er die Augen schloss, verwandelten sich die Klänge vorübergehend in ein märchenhaftes Morsesignal. Beinahe wäre er in der Idylle eingeschlafen.

      Es war Debora Kellenberger, die ihn weckte.

      Sie stiess an seine Schulter und fragte, ob es ihr erlaubt sei, sich zu ihm zu setzen.

      Nur zu, meinte Hebeisen, während er blinzelte, und machte eine einladende Geste. Ihr Mittagessen bestand aus einem Thunfischsandwich und einem Orangensaft.

      Sie stellte sich ihm mit Namen vor. Debora wusste, dass Hebeisen Jura studierte, was ihn überraschte. Obwohl sie ihr eigenes Studium längst abgeschlossen hatte und mitten im Berufsleben stand, hatte sie vor zehn Tagen eine öffentliche Vorlesung besucht. Sie erzählte ihm, dass er ihr dabei aufgefallen sei. Einfach so.

      Es schmeichelte dem scheuen Hebeisen. Debora Kellenberger war nämlich eine überaus attraktive Person.

      Sie hatte ein blasses, aristokratisches Gesicht und langes, glänzendes Haar. Sie war versiert geschminkt und hatte einen femininen Körper. Sie trug schwarze Jeans, eine weisse Blouse, und über der Schulter einen modisch geschnittenen hellgrauen Regenmantel. In ihrem Haar steckte eine Sonnenbrille aus bernsteinbraunem Horn, und um den Hals trug sie eine unauffällige Perlenkette.

      Sie hatte etwas von einem modernen Harlekin.

      Sie war getrieben von einem tiefen Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, das Hebeisen sofort gefangen nahm.

      Nachdem sie ihm beiläufig das Du angetragen hatte, erzählte sie, dass sie als Anwältin für eine Grossbank tätig war. Debora besass ein Büro am Hauptsitz an der Bahnhofstrasse, und sie verfügte über jede Menge Kontakte im In- und Ausland.

      Hebeisen fand, dass sie auf ihn ein bisschen wie eine Droge wirkte. Sie hatte Geschmack. Sie verströmte etwas Weltenbürgerliches. Gleichzeitig lag in der Art ihrer Konversation etwas Manisches. Sie hatte Zugang zu einer Welt, die ihm selbst verschlossen war, und damit stand sie für ein Erwachsensein, von dem er insgeheim spürte, dass es ihm Angst machte. Es hatte irgendetwas mit Gewalt zu tun.

      «Hast du bereits Pläne für die Zeit nach dem Studium?», wollte sie von ihm wissen.

      «Äusserlich befindest du nicht auf dem Weg zum Fünf-Sterne-Anwalt.»

      Hebeisen liess sich nicht verletzen. «In meiner Freizeit bin ich Maler», sagte er gelassen.

      Debora hob anerkennend eine Augenbraue. «Das ist spannend», meinte sie ernst.

      «Wer weiss», sagte Hebeisen, indem er seine Lektüre ablegte.

      «Wer weiss was?», fragte sie zwischen zwei Bissen.

      «Vielleicht hänge ich das Recht nach Studiumsende an den Nagel und kümmere mich nur noch um die

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