Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung. Julius Fischer
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»Ich bin Ultra! Das is was ganz anderes!«
»Wie isses denn heute ausgegangen?«
»Vier null verloren!«, entgegnete Enrico und schluchzte ein bisschen.
»Ach, und da prügelst du dich nicht?«
»Hab ich schon«, sagte er und deutete auf den abgebrochenen Schneidezahn. »Hier, ma was andres? Hast du zufällig Bier?«
Zufällig hatte ich Bier. Wenn ich mal Zeit habe, sollte ich darüber nachdenken, ob das ein gutes Zeichen ist.
»Danke, Aldr!«, sagte er und nahm einen Schluck. Dann stieß er ausgiebig auf. Seine Stimmung verbesserte sich schlagartig.
»Weeßte noch früher in der Pause, wo du immer gerülpst hast, Aldr?«, fragte er glucksend. »Zum Beispiel: ›Tschuldigung, dass ich immer rülpse?‹ Mach ma, kannste das noch? Mach ma, Dschalljes!«
»Nee, das ist mir unangenehm. Ich habe mich weiterentwickelt.«
»Wiesou?«
»Ich mache jetzt Lesungen.«
»Was machst du?«
»Ich lese lustige Texte vor. Mit Publikum.«
»Also Comedy?«
»Nee, na ja, also wie gesagt, ich lese vor.«
»Und deswegen kannst du ni rülpsen? Verstehschni! Was machst du denn bei den Lesungen?«
Ich überlegte.
»Na ja, also ich habe zum Beispiel ein kurzes Gedicht über Ironie. Ironie kennste?«
»Näj!«
»War das ironisch?«
»Näj!«
»Gut, also mein Gedicht über Ironie: Warum waschen manche Punks ihren Iro nie?«
Enrico guckte mich lange an.
»Also keene Comedy!«, sagte er schließlich.
»Haha.«
»Weeßt du eigentlich, dass ich dich früher immer verkloppen wollte?«
»Echt? Wieso?«
»Na ja, weeßschni? Du warst so een Klugscheißer. Das hat mich produziert …«
»Provoziert.«
»Siehste. Schonne wieder. Hass!«
»Und jetzt? Willste mich immer noch verkloppen?«
»Näj, ich hab mich weiterentwickelt.«
Ich muss lachen. Ich sollte Enrico mal wieder anrufen. Ein spitzer Finger pikt mir in die Schulter.
»Hallo! Hallo!«
Der Schaffner schaut mich an. Der Möhrenmann auch. Angst und Unverständnis in ihren hohlen Gesichtern. Haben die noch nie jemanden einfach so lachen sehen?
»Ihre Fahrkarte bitte.«
Fuck you, fuck you, fuck you, denke ich und sage: »Sehr gern.«
Auf einmal kommt der Zug zum Stehen. Sehr abrupt. Alles rumpelt umher, Koffer fliegen durchs Abteil. Mein Rechner fällt mir in den Schoß, der Möhrenmann, der in Fahrtrichtung sitzt, schlägt mit dem Kopf auf dem Tisch auf. Der Schaffner, dem der heftige Ruck nichts auszumachen scheint, wirft einen kurzen Blick auf uns, der sagen soll: »Ihr Unwürdigen, ihr Nichtse. Das ist ein Zug, hier wirken andere Kräfte als in euren jämmerlichen Leben. Mit dieser Körperbeherrschung solltet ihr nicht mal auf die Straße gehen, es könnte ein Blatt vom Baume wehen und euch in zwei Teile spalten.«
So zumindest interpretiere ich diesen Blick. Ich habe mir angewöhnt, davon auszugehen, dass die Leute immer nur das Schlechteste von einem denken.
Der Schaffner verlässt das Abteil, ohne meine Fahrkarte kontrolliert zu haben.
Mein Gegenüber und ich schaffen Ordnung, verstauen die Koffer und schweigen.
Als wir wieder sitzen, öffnet er seinen Rucksack und holt eine Tupperdose heraus. Ich rieche Graubrot und Leberwurst. Dazu Kohlrabi.
Ich schließe die Augen.
Ich denke mich einfach an einen schönen Ort. Hmmm, die Ostsee. Ich liebe die Ostsee. Auf jeden Fall mehr als die Nordsee.
Was ist das überhaupt für ein Meer? Das eigentlich nur die halbe Zeit da ist? Ohne Scheiß, als Scheidungskind habe ich genug Erfahrungen mit Vätern gesammelt, die nicht da waren. Wozu brauche ich dann ein Meer, was mir das immer wieder spiegelt? Im Gegensatz zu den Vätern kommt die Nordsee wenigstens zurück.
An der Ostsee war ich immer mit meiner Mutter. Morgens stiegen wir aufs Fahrrad, fuhren eine halbe Stunde durch den Wald und waren an einem perfekten Strand. Keine anderen Menschen, viel Holz zum Hüttebauen, manchmal sogar Bernsteine. Und mittags gab es immer Snacks. Zum Beispiel Kohlrabi.
Warum muss ich an Kohlrabi denken? Ich öffne die Augen. Der Typ macht mich fertig. Nicht nur der Mund, nein, das komplette Gesicht ist ausschließlich mit der Vertilgung des Kohlrabi beschäftigt.
Wie soll ich mich denn da an einen schönen Ort denken?
Ich habe einen Kumpel, der kann sich auch nur auf Dinge konzentrieren, die da sind, sprich: Ihm fehlt das Abstraktionsvermögen. Schwierig. Vor allem, wenn wir versuchen, zu arbeiten. Also wenn wir versuchen, einen Liedtext zu schreiben. Ich frage ihn dann meistens, worüber er gerne schreiben würde. Er sitzt mir gegenüber, nippt an einer Cola und sagt: »Ich weiß nicht, aber wie wäre es mit einem Lied über Limonade?«
Kaum auszumalen, was er in romantischen Momenten so tut. »Liebste, dein Haar ist so schön wie … dein Haar.«
Er ist eben ein Mensch, der sehr empfänglich für die Schwingungen seiner Umgebung ist.
So wie ich gerade. Ich bin schwach. Ich kann mir keinen anderen schönen Ort vorstellen als einen Zug. Ich kann einfach nicht. Und ich kann mir auch keinen anderen Zeitpunkt vorstellen als ebenjenen, in welchem ein Zug auf freier Strecke zum Halten gekommen ist. Ich hasse meine Gedanken.
Das letzte Mal, als ich länger so in der Gegend herumstand, war ich mit vier Freunden auf Tour. Lesetour. Mit Bassist. Boris the Beast. Außerdem anwesend waren Marc-Uwe und Maik. Der Einzige, der fehlte, war unser Kollege Sebastian, der bereits zwei Stunden vor uns in den Zug gestiegen war.
Er musste dafür seine Gründe gehabt haben, einer davon war sicherlich, dass wir spielen würden, und Sebastian hasst alle Spiele.
Bis auf Pokern und Verstecken. Verstecken kann ich ja noch verstehen, denn er ist sehr klein, aber beim Pokern ist er noch nicht mal gut. Obwohl: Bluffen kann er. Er behauptet zum Beispiel schon sehr lange, dass er Schriftsteller ist. Und nicht klein.
Ein anderer Grund war, dass er ein wichtiges Treffen hatte. Aber mit wem? Den anderen Zwergenfürsten?