AVOGADRO CORP.. William Hertling
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Kapitel 3
Gary Mitchell nahm die ›Avogadro‹-Ausfahrt von der Freemont Bridge herunter und fuhr auf das Tor des Parkhauses zu. Seine Scheinwerfer wurden von den Leuchtstreifen der Schranke in die Dunkelheit des frühen Morgens zurückgeworfen. Siegessicher präsentierte er dem Lesegerät seinen Firmenausweis. Die Schranke hob sich und Gary fuhr in das fast leere Parkhaus, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht.
Nur noch zwei Tage bis zum Stichtag, an dem er ELOPe von den Servern werfen konnte. David und Mike hatten nichts getan, um den Speicherbedarf zu reduzieren. Gary freute sich bereits darauf, eine E-Mail an Sean Leonov zu senden, um ihn wissen zu lassen, dass er ELOPe ausschalten würde. Auf diesen Tag hatte er seit Monaten gewartet. Am liebsten hätte er gleich den Stecker gezogen und dann erst die E-Mail geschickt, aber er wusste, dass es Sean verärgern würde, wenn er ELOPe ohne Vorwarnung abschaltete. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er so früh in sein Büro kam. Auf Gary wirkte das leere Gebäude seltsam beunruhigend. Er schob das Gefühl beiseite und dachte daran, wie er die E-Mail verschicken würde, was das Lächeln wieder auf sein Gesicht zurückkehren ließ. Einige Minuten später passierte Gary den leeren Schreibtisch seiner Sekretärin und ging in sein eigenes Büro. Als sein Computer hochfuhr, öffnete Gary sofort seine E-Mails um die Nachricht an Sean zu verfassen.
Von: Gary Mitchell
An: Sean Leonov
Betreff: ELOPe Projekt
Zeit: 6:22
Sean,
ich wollte Sie nur vorab informieren, dass ich am Freitag ELOPe den Zugang zu den Produktionsservern entziehen werde. Sie verbrauchen fast 2000 mal mehr Serverkapazität, als wir Ihnen ursprünglich zugewiesen haben. Ich habe Ihnen praktisch freien Zugriff gewährt, solange wir ausreichende Zusatzkapazitäten hatten, weil ich weiß, dass Ihnen das Projekt am Herzen liegt. Allerdings verbrauchen Sie jetzt so viel Kapazitäten, dass wir zweimal gezwungen waren, auf die Reserveserver auszuweichen. Wie Sie wissen, kann es, sollten wir die Reserven ausschöpfen, verbreitet zu Ausfällen bei AvoMail kommen. Als das beim letzten Mal passierte, verloren wir ein Dutzend Geschäftskunden, mit denen wir in laufenden Verhandlungen standen. Wieder und wieder habe ich mit David und Mike gesprochen, aber sie haben nichts getan, um ihre Serverlast zu reduzieren. Ich habe sie ein letztes Mal verwarnt und ihnen zwei Wochen gegeben, um sich darum zu kümmern, aber Sie haben nichts getan.
Als die E-Mail fertig war, saß Gary da und freute sich hämisch. Dann wuchtete er sich hoch, um sich mit einem Kaffee und der Tageszeitung zu versorgen. Natürlich war es noch zu früh für ernsthafte Arbeit. Er würde die Zeitung lesen und in ein paar Stunden zurückkehren. Gary schlenderte pfeifend den Korridor hinunter.
John Anderson ließ dankbar seine schwere Umhängetasche zu Boden gleiten. Er schlüpfte aus seinem nassen Regenmantel und hängte ihn hinter seinem Tisch auf. Schwer ließ er sich in seinen Stuhl fallen, doch die Federung fing sein Gewicht mühelos auf. Er seufzte bei dem Gedanken an einen weiteren Tag in der Beschaffungsabteilung, wo er Kaufanforderungen bearbeitete.
Er warf einen zögernden Blick in seinen Posteingang und sah mehr als einhundert neue Nachrichten. Seine Schultern sackten ein wenig herab und er griff nach seinem Kaffee. John kümmerte sich diese Woche um die Kinder, daher hatte er sie vor der Arbeit an der Schule absetzen müssen. Durch Portlands verrücktes Schulsystem waren die besten öffentlichen Schulen frei wählbar. Er und seine Ex-Frau mussten sich zwischen einem Dutzend verschiedener Schulen entscheiden. Sie einigten sich schließlich auf die Environmental School im Südwesten Portlands. Johns Kinder liebten die Schule ebenso wie er. Leider wohnten sie im Nordosten von Portland, die Schule war im südöstlichen Viertel und die Arbeit war jenseits des Flusses im Nordwesten von Portland. Seine übliche 20-minütige Route wurde zu einer mehr als einstündigen Fahrt an den Tagen, an denen er seine Kinder abliefern musste. Er kam dann immer zu spät ins Büro und wenn er die Arbeit erreichte, hatte sein Smartphone bereits seit einer geschlagenen Stunde gepiept und gesummt, während sich die E-Mails häuften. Er hasste es, mit diesem Rückstand seinen Tag zu beginnen. Sein einziger Trost war, dass die Schule der Kinder ganz in der Nähe eines Stumptown Cafés lag. John nippte an dem Kaffee aus äthiopischem Anbau. Die dunkle, bittersüße Wärme zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Nachdem der Kaffee sein Gehirn Schritt für Schritt in Gang gebracht hatte, war er bereit, sich durch seinen Posteingang zu arbeiten. Er stutzte, als er auf eine rätselhafte Mail von Gary Mitchell stieß. Sie war frühmorgens versendet worden und forderte ihn auf, 5000 Server umzuleiten. John las die kurze Mail dreimal vollständig durch.
Von: Gary Mitchell (Kommunikationsprodukte)
An: John Anderson (Beschaffung)
Betreff: ELOPe Projekt
Zeit: 6:22
Hallo John,
Sean Leonov bat mich, den Jungs von ELOPe auszuhelfen. Sie brauchen schnellstmöglich zusätzliche Server und uns gehen hier die freien Kapazitäten aus. Können Sie 5000 Standardserver aus dem normalen Beschaffungszyklus herausziehen und der IT zur sofortigen Auslieferung zur Verfügung stellen? Bitte übertragen Sie die Zugriffsrechte direkt an David Ryan.
Vielen Dank,
Gary Mitchell
John dachte kurz über die Ausnahmeregelung nach. Normalerweise stellte eine Abteilung, die neue Server wollte, eine Kaufanforderung. Dann wurden die Teile erworben, zu den Avogadro Datenzentren transportiert, zu firmentypischen Servern zusammengebaut und in die Serverracks integriert. Dann übernahm eine andere Gruppe, installierte das Betriebssystem und die Standardsoftware. Insgesamt würde es, abhängig von der Größe und Dringlichkeit des Auftrages, irgendwo zwischen 6 und 12 Wochen dauern bis die angeforderten Server betriebsbereit waren.
Sollte eine Abteilung eilig zusätzliche Server benötigen, dann konnte sie eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Im Ausnahmeprozess wurden Server, die für eine andere Gruppe bestimmt waren und sich bereits in der Pipeline befanden, zu der Abteilung umgeleitet, die sie dringend benötigte. Dann würden ersatzweise Computer für die erste Gruppe bestellt, die nun ein wenig länger warten musste. Ausnahmeanforderungen waren nicht üblich, aber auch nicht ungewöhnlich. Nein, der rätselhafte Teil war nicht die Anforderung an sich, sondern dass Gary sie als Mail versendet hatte. Nur die offizielle Bestellsoftware konnte genutzt werden, um Server zu bestellen, zu versenden und umzuleiten. Gary sollte das (eigentlich) wissen.
Er hatte die Hand schon am Telefon, um Gary anzurufen, und zog sie dann wieder zurück. Ein Anruf bei Gary würde ihn mindestens eine Viertelstunde kosten. Er hatte mit der Zeit gelernt, dass, unabhängig von den Regeln der Bestellvorgänge, jeder nur mit ihm debattieren wollte, wenn John sie ihm zu erklären versuchte. Und je höher jemand in der Firmenhierarchie war, desto mehr würde er diskutieren, so als ob seine Anwesenheit in den luftigen Höhen der Verwaltung ihn mit besonderen Kräften ausstatten würde, die die Regeln aushebeln können. Eine schnelle Mail würde vermeiden, dass ihm das Ohr abgekaut wurde.
An: Gary Mitchell (Kommunikationsprodukte)
Von: John Anderson (Beschaffung)