Ostfriesische Verhältnisse. Peter Gerdes
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Als Edwin einige Minuten später den Spazierweg mit seiner starken Taschenlampe ableuchtete, fand er Antje Baumann zusammengekauert und schluchzend vor, die Arme um Domian geschlungen. Der Hund lag ganz still, nur seine Rute zuckte leicht zur Begrüßung.
7.
»Hören Sie mal, Herr Christiansen, jetzt müssen Sie aber mal was unternehmen. So geht es wirklich nicht weiter!«
Gerd Christiansen seufzte leise, ließ sein Fahrrad ausrollen und schwang sich aus dem Sattel. Eine Bewegung, die er seit seiner frühen Kindheit praktizierte und die ihm daher auch immer noch halbwegs elegant gelang, trotz seiner Körperfülle. In der Leeraner Altstadt fuhr er grundsätzlich mit dem Rad; Parkplätze waren hier Glückssache. Deshalb war er nach seiner Rückkehr aus Aurich auch zunächst nach Hause gefahren, obwohl es schon fast sieben Uhr war und er sich beeilen musste, um seine Buchhändlerin noch anzutreffen.
Das konnte er nun vergessen. Sein Nachbar hatte ihm aufgelauert, und Christiansen ahnte auch schon den Anlass. Kein erfreulicher, so viel war klar.
Unnötig umständlich schob er sein Rad in die schmale Lohne zwischen seinem Geschäftshaus und dem benachbarten Gebäude, lehnte es gegen die Wand und ließ das Ringschloss einrasten. Danach war die Konfrontation nicht länger hinauszuzögern.
»Dann waren die jungen Leute wohl wieder mal zu laut, Herr Terveer?« Christiansen legte den Kopf in den Nacken und schaute die efeubewachsene, cremeweiß verputzte Mauer seines Geschäfts- und Mietshauses hoch; die beiden großen Sprossenfenster im ersten Stock gehörten zur Küche der großen Wohnung, die er nach langem Zögern an diese WG vermietet hatte. Eine Entscheidung, die er längst bereute.
»Laut ist überhaupt kein Ausdruck.« Der kleine, rotgesichtige Mann bebte vor unterdrücktem Ärger. »Das war ein Radau letzte Nacht, schlimmer als bei den Hottentotten! Erst diese Musik, Sie wissen schon, die so klingt, wie wenn dicke Bleche ausgestanzt werden. Dann kam noch dieses Gebrüll und Gekreische dazu. Und alles lange nach Mitternacht! Irgendwann wurde es mir zu bunt, ich hab mir den Bademantel übergezogen, bin raus und hab bei denen geklingelt, zweimal. Danach war es dann ruhig, aber aufgemacht hat keiner.« Er schnaufte vor Wut. »Es reicht. Es reicht mir wirklich! Greifen Sie endlich durch!«
Christiansen nickte verständnisvoll. Die Beschreibung seines Nachbarn stand wohl für Techno und Hip-Hop, in dieser Reihenfolge. Auch er fand beide Musikrichtungen überwiegend grauenhaft, da brauchte er nicht zu heucheln. Nur zu südafrikanischen Völkern hatte er eine andere Einstellung, aber die hier und jetzt zu thematisieren, schien ihm nicht angeraten. »Ich verstehe das wirklich nicht, Herr Terveer«, beteuerte er. »Letztes Mal habe ich den jungen Leuten doch ganz klar gesagt, was hier in der Altstadt geht und was nicht! Gelbe Karte, habe ich gesagt, ach was, dunkelgelb! Benehmt euch, hab ich gesagt. Noch so ein Ding, und ihr könnt euch eine andere Bleibe suchen!«
»Das war wohl, als deren Besuch nachts übers Dach geklettert und über den Balkon eingebrochen ist, weil er den Hausschlüssel vergessen hatte, was?« Terveers Gesicht lief noch dunkler an. »Meine Frau hätte seinerzeit fast einen Herzinfarkt bekommen, als sie wach geworden ist und das gesehen hat! Bloß gut, dass sie letzte Nacht gar nicht hier war, sondern bei ihrer pflegebedürftigen Mutter übernachtet hat. Also, das sage ich Ihnen, ich hätte diesen WG-Typen damals gleich den Stuhl vor die Tür gestellt.«
Christiansen biss sich auf die Lippe. Jetzt hatte er sich selbst in die Ecke geschwatzt. Mit einer weiteren letzten Verwarnung konnte er nicht mehr kommen; diese Karte hatte er bereits ausgespielt. Und sie hatte ganz offenkundig nicht gestochen.
Er musterte sein Haus, die Hände in die Seiten gestemmt, und seufzte erneut. Er liebte dieses Gebäude, hatte es schon früher geliebt, als es noch nicht seins gewesen war. Dann hatte es leer gestanden und wäre vielleicht ganz verfallen, wenn seine Frau und er es nicht gekauft und gerettet hätten. Tja, schön und gut. Um aber solch ein Haus dauerhaft zu erhalten, mussten sämtliche Räume genutzt werden, nicht nur Buchladen und Restaurant, sondern auch die beiden Wohnungen im ersten Stock. Christiansen musste also Vermieter werden. Damit hatte der ganze Ärger angefangen.
Und jetzt war es Zeit für den Befreiungsschlag. Da hatte der Nachbar wohl recht.
Christiansen gab sich einen Ruck, stieg die beiden Stufen zum Seiteneingang hoch und betätigte die Klingel. Von oben war schwach der Gong zu hören. Big-Ben-Sound, das hatte er passend gefunden für ein Haus, das ganz auf Krimi abgestellt war. Krimi, das war immer noch irgendwie englisch, Dartmoor, Themse-Nebel und so. Eigentlich hätte er ja auch selbst in die Wohnung einziehen können; dann wäre ihm dieser Ärger erspart geblieben.
Er klingelte noch einmal. Nichts rührte sich. Waren die Bewohner etwa schon ausgeflogen? Oder lagen sie nach dieser durchzechten und durchtobten Nacht immer noch im Säuferkoma? Abends um nach sieben? Nicht wirklich wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen.
Christiansen war sich gar nicht sicher, wie viele Mieter eigentlich tatsächlich hier wohnten. Vier waren es ursprünglich gewesen, die den Vertrag unterzeichnet hatten, nicht zu viele für diese ungewöhnlich große, verwinkelte Wohnung mit dem riesigen Wohnzimmer. Aber schon sehr bald hatte reges Kommen und Gehen eingesetzt, immer wieder waren neue Gesichter aufgetaucht, andere dafür nicht mehr. Frederik Jaschinsky, der Hauptmieter, hatte auf Nachfragen stets ausweichend geantwortet. Der Vermieter hatte sich damit zufriedengegeben. Die Miete war ja auch immer pünktlich überwiesen worden.
Er drehte sich zu Terveer um und zuckte die Achseln. »Es öffnet keiner«, stellte er überflüssigerweise fest. Problem vertagt, jetzt konnte er sich doch noch dem Tagesabschluss seiner Buchhandlung widmen. Christiansen fühlte sich erleichtert.
Der Nachbar aber machte nicht den Eindruck, als gäbe er sich damit zufrieden. Sein Kinn zuckte auffordernd in Richtung Tür. »Ist doch gar nicht richtig zu«, sagte er. »Gehen Sie doch einfach rauf. Einer von denen ist bestimmt da oben. Dann können Sie’s dem gleich direkt ins Gesicht sagen.« Seine verschränkten Arme machten deutlich, dass er vorhatte, die Ausführung dieses Vorschlags bis zum Schluss zu überwachen. Offenbar traute er dem korpulenten Buchhändler nicht allzu viel Konsequenz zu.
Christiansen stupste die schwere Holztür mit den Fingerspitzen an. Tatsächlich, nur angelehnt; geräuschlos schwang sie auf. Der typische, feucht-staubige Geruch nach altem Gemäuer schlug ihm aus dem Treppenhaus entgegen. Heute schien er besonders intensiv zu sein.
»Los jetzt!«, knurrte es hinter ihm. Christiansen gab sich einen Ruck. Einmal musste es ja sein, warum also nicht jetzt?
Die gewundene Holztreppe knarrte und dröhnte unter seinen schweren Schritten. Der bordeauxrote Anstrich, noch keine zwei Jahre alt, sah schon wieder fleckig und verschrammt aus. Christiansen stöhnte erneut, diesmal aber lautlos, denn er hörte Terveer hinter sich her trapsen, und vor dem wollte er sich nicht noch mehr Schwächen erlauben.
Fast fünf Meter waren die Räume im Erdgeschoss hoch; entsprechend lange dauerte es, bis der obere Treppenabsatz in Sicht kam. »Hallo, Herr Jaschinsky? Sind Sie zu Hause?«, rief Christiansen. »Herr Jaschinsky, ich müsste mal mit Ihnen reden.« Als er selber noch Mieter gewesen war, hatte er zudringliche Vermieter gehasst. Wenigstens eine Vorwarnung musste sein.
Hinter sich hörte er Terveer verächtlich schnauben.
Die Treppe mündete direkt in einen Flur, von dem diverse Türen zu den Zimmern, in die Küche und ins Bad führten; Christiansen und sein nachdrängender Nachbar standen also praktisch schon mitten in der Wohnung. Nur eine der vielen baulichen Besonderheiten, die die Vermietung dieser ansonsten attraktiven Wohnung ziemlich erschwert hatten. Der Buchhändler entschied sich für die Küchentür und klopfte.