Schlusslichter. Georges Simenon
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Ein Polizeiwagen mit heulender Sirene überholte ihn, dann ein Rettungswagen und bald ein zweiter. Kurz danach ging es nur noch im Schritttempo voran, bis er an zwei ineinander verkeilten Autos vorbeikam.
Sein Blick fiel auf einen Mann in weißem Hemd, so wie er oder sein Freund aus der Bar, mit wirrem Haar und blutverschmiertem Gesicht, der den Polizisten etwas erklärte und mit ausgestrecktem Arm auf einen Punkt irgendwo im Dunkel wies.
Wie viele Tote hatten die Experten für dieses Wochenende angekündigt? Vierhundertfünfunddreißig. Er erinnerte sich an die Zahl. Also war er nicht betrunken. Außerdem war er siebzig Meilen pro Stunde gefahren – ohne die kleinste Schramme am Wagen.
Wahrscheinlich saß Nancy in ihrem stickigen halbdunklen Bus, in dem die anderen Fahrgäste vom Schlaf überwältigt in den Sitzen hingen, und bereute ihren Entschluss. Sie hatte eine gewisse Abneigung, sich unters Volk zu mischen. Der Geruch nach Menschen und nach Schweiß, der im Bus hing, war ihr bestimmt ebenso unangenehm wie die Vertraulichkeiten ihrer Nachbarn. In der letzten Bar hätte sie sich nicht wohl gefühlt. Womöglich war sie ein wenig versnobt?
Nach dem durch den Unfall verursachten Stau wollte er lieber noch ein oder zwei Meilen hinter sich bringen, bevor er anhielt. Als er dann abbremste, hatte er zwei Lokale zur Auswahl: ein mit Schnörkeln verziertes Gasthaus mit malvenfarbenem Neonschild und gleich daneben, hinter einer zum Parken vorgesehenen Freifläche, ein Holzhaus ohne Obergeschoss im Blockhausstil.
Er entschied sich für Letzteres und dachte auch daran, den Zündschlüssel abzuziehen und das Licht auszuschalten – noch ein Beweis, dass er nicht betrunken war.
Sofort fiel ihm auf, dass die Bar in einem besseren Zustand war als die vorige, und im Innern sah man, dass es sich wirklich um ein Blockhaus handelte – altersgeschwärztes Holz an den Wänden, massive Deckenbalken, Zinn- und Steingutkrüge auf den Wandregalen und eine kleine Waffensammlung mit Gewehren aus der Zeit der Revolution.
Der Wirt war ein kleiner runder Mann mit weißer Schürze und Glatze, der einen leichten deutschen Akzent beibehalten hatte. Es gab einen Zapfhahn für Bier, das in großen Henkelgläsern serviert wurde.
Er stand einen Moment herum, bevor er einen Platz am Tresen bekam, wies dann wortlos auf den Zapfhahn und ließ seinen Blick über die Runde gleiten, als ob er jemanden suchte.
Vielleicht suchte er wirklich jemanden, ganz unbewusst. Hier gab es keinen Fernseher, aber eine gelb und rot leuchtende Musicbox, deren schimmernde Hebel die Platten mit faszinierender Langsamkeit hin- und herbewegten. Währenddessen lief hinter dem Tresen auch noch ein kleines braunes Radio, offenbar einzig und allein zur Unterhaltung des Wirts, der sich zu dem Gerät hinunterbeugte, sobald er einen Moment nichts zu tun hatte.
Steve trank sein Bier in langen Zügen, wie ein durstiger Mann, und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er brauchte nicht lange zu überlegen, ehe er die nächste Bestellung aufgab:
»Einen Rye!«
Das Bier war schal, und er hatte Lust, den öligen Geschmack des irischen Whiskys auf der Zunge zu spüren, von dem ihm jedes Mal übel wurde. Er setzte sich halb auf den Barhocker, die Ellbogen auf den Tresen aufgestützt, und nahm damit genau die Haltung des Unbekannten in der letzten Bar ein.
Er hatte auch blaue Augen, vielleicht etwas weniger hell, und bestimmt genauso breite Schultern. Und unter seinem Hemdsärmel wölbte sich der Bizeps wie bei dem anderen.
Er konnte sich jetzt Zeit lassen mit dem Trinken und hörte mit einem Ohr auf das, was die beiden Männer rechts von ihm redeten. Sie waren betrunken. Alle waren hier mehr oder weniger betrunken, ab und zu kam von irgendwoher lautes Gelächter, oder man hörte ein Glas auf den Boden fallen.
»Ich hab ihm gesagt, dass ich mich nicht für dumm verkaufen lasse mit seinen zwölf Dollar die Tonne, und als er kapiert hat, dass ich nicht scherze, hat er mich groß angeschaut, genau so …«
Tonnen wovon? Steve erfuhr es nicht mehr. Nichts in der weiteren Unterhaltung ließ erahnen, worum es sich handelte, was dem, der zuhörte, auch nicht viel auszumachen schien. Unterdessen versuchte er, ein paar Fetzen von dem mitzukriegen, was im Radio gesagt wurde. Schon wieder Nachrichten. Der Sprecher meldete etliche Unfälle, darunter einen, bei dem ein Baum vom Blitz getroffen worden und auf ein Wagendach gefallen war.
Dann ging es um Politik, aber Steve hörte nicht hin. Plötzlich war ihm danach, seinem Nachbarn zur Linken auf die Schulter zu tippen und ihn anzusprechen, möglichst im selben Tonfall und mit der gleichen undurchdringlichen Miene wie sein Freund aus der letzten Bar:
»Der Nächste geht auf meine Rechnung, mein Lieber!«
Sein Nachbar links war nämlich auch allein. Im Gegensatz zu dem anderen von vorher wirkte er allerdings nicht betrunken, und das Bierglas, das er vor sich hatte, war noch drei viertel voll.
Er war auch ein anderer Typ: dunkelhaarig, mit einem länglichen Gesicht, fahler Haut, braunen Augen und mageren Fingern, deren kräftige Gelenke auffielen, wenn er zwischendurch die Zigarette aus dem Mund nahm.
Als Steve hereingekommen war, hatte er ihm einen kurzen Blick zugeworfen und dann schnell weggesehen. Dann wollte er sich eine neue Zigarette anstecken, musste aber feststellen, dass das Päckchen, das er aus der Tasche zog, leer war. Er entfernte sich einen Augenblick von der Bar und ging zum Zigarettenautomaten hinüber.
Da fielen Steve die sehr groben, schmutzigen Schuhe des Mannes auf, die nach Feldarbeit aussahen und nicht zu der ganzen Erscheinung passten. Er trug weder Schlips noch Jackett, nur ein blaues Baumwollhemd und dunkle Hosen, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurden.
Trotz des Gewichts an seinen Füßen bewegte er sich behände wie eine Katze. Er ging durch den Raum, ohne jemanden zu streifen, und nahm mit der Zigarette im Mundwinkel wieder auf dem Barhocker Platz. Er warf Steve, der gerade den Mund aufmachte, um ihn anzusprechen, einen kurzen Blick zu.
Steve hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Das war seine Nacht, eine Gelegenheit, wie sie sich vielleicht nie wieder ergab. Nancy hatte es so gewollt. Apropos Nancy: Solange er noch einen klaren Kopf hatte, musste er sich fest vornehmen, gegen fünf oder sechs Uhr früh bei den Keanes anzurufen. Um diese Zeit würde seine Frau im Camp angekommen sein. Die Keanes hatten ihnen wie letztes und vorletztes Jahr in einem Bungalow ein Zimmer oder wenigstens ein Bett reserviert, weil am Wochenende vor dem Labor Day weit und breit keine Unterkunft zu finden war, weder in Maine noch anderswo. Es war überall das Gleiche, von einem Ende der Vereinigten Staaten zum anderen.
»Fünfundvierzig Millionen Autofahrer!«, mokierte er sich halblaut, um die Aufmerksamkeit seines Nachbarn auf sich zu lenken.
»Fünfundvierzig Millionen Männer und Frauen, losgelassen auf unsere Straßen!«
Für ihn schien das plötzlich eine echte Erkenntnis zu sein, und er stellte nun allen Ernstes seine Überlegungen an, während er den dunkelhaarigen jungen Mann zu seiner Linken ansah.
»So ein Schauspiel bekommt man in keinem anderen Land der Welt zu sehen! Vierhundertfünfunddreißig Tote bis Montagabend!«
Jetzt gab er endlich seinem Impuls nach und tippte dem Mann sachte auf die Schulter.
»Trinken Sie einen mit mir?«
Der andere wandte sich zu ihm um, gab aber keine Antwort. Doch Steve ging darüber hinweg und rief den über sein winziges Radio gebeugten Wirt herbei.
»Zwei!«,