Schlusslichter. Georges Simenon

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Schlusslichter - Georges  Simenon Die großen Romane

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machte einen völlig anderen Eindruck als die üblichen Bars an der Straße. Es musste ein Dorf in der Nähe sein oder eine kleine Stadt, wahrscheinlich eine Fabrik, denn es waren unterschiedliche Akzente zu hören, und zwei Schwarze lehnten neben ihm am Tresen.

      »Was darf’s denn sein, Fremder?«, fragte der Mann hinter der Theke.

      Das sollte anscheinend kein Scherz sein. Seine Stimme klang herzlich.

      »Rye!«, murmelte Steve.

      Diesmal ging es ihm nicht um den stärkeren Schnaps. Er nahm Rye, weil es hier aufgefallen wäre, wenn er Scotch bestellt hätte. Er wollte Nancy nicht zu lang allein lassen. Er durfte aber auch nicht zu schnell zum Wagen zurückgehen, um das, was er durch sein Verhalten erreichen wollte, nicht gleich wieder zu verspielen.

      Er staunte selbst über seine Unerbittlichkeit. Fast hätte er sich seines Verhaltens geschämt, wenngleich er im tiefsten Innern überzeugt war, im Recht zu sein und seiner Frau eine Lektion erteilen zu müssen.

      Sie war schuld daran, dass er Lokale wie dieses hier fast nie betrat. Er sog gierig den Geruch ein, besah sich die dunkelgrünen Wände mit den alten Farbdrucken und blickte durch die geöffnete Tür in die unaufgeräumte Küche, wo eine Frau, der die grauen Haare ins Gesicht hingen, zwei anderen Frauen und einem Mann zuprostete.

      Über dem Tresen hing ein alter Fernseher. Die zittrigen, abgehackten Bilder, die über den riesigen Bildschirm liefen, erinnerten an Stummfilme. Aber niemand schaute hin. Fast überall wurde laut geredet. Der eine Schwarze neben ihm stieß ihn ständig an, wenn er beim Sprechen und Gestikulieren einen Schritt zurücktrat, und entschuldigte sich dann jedes Mal unter großem Gelächter. Am Ecktisch saß eng umschlungen ein nicht mehr ganz jugendliches Liebespaar. Wange an Wange schmiegten sie sich aneinander, unbeweglich wie auf einem Foto, schweigend, den Blick ins Leere gerichtet.

      Nancy würde das nie verstehen. Ihm selbst würde es schwerfallen, ihr zu erklären, was es da zu verstehen gab. Sie nahm an, dass er angehalten hatte, um etwas zu trinken. Aber das stimmte nicht ganz, war wieder einmal nur ihre Wahrheit.

      Er war ihr nicht böse. Er fragte sich, ob sie weinte, so allein im Wagen, zog eine Dollarnote aus der Tasche und legte sie auf die Bar. Es war Zeit zu gehen. Er war ungefähr fünf Minuten geblieben. Auf dem Bildschirm erschien das Foto eines etwa vierjährigen Mädchens, das zwischen Besen und Eimern in einem Wandschrank kauerte; er achtete nicht auf den Kommentar, das Bild verschwand, als Nächstes tauchte ein Schaufenster mit zerbrochener Scheibe auf.

      Er nahm das Kleingeld und wollte sich gerade umdrehen, als ihm jemand auf die Schulter tippte und langsam sagte:

      »Der Nächste geht auf meine Rechnung, mein Lieber!«

      Es war der Mann rechts von ihm, den er bisher nicht beachtet hatte. Er war allein, hatte die Ellbogen auf den Tresen gestützt, und als Steve ihn ansah, erwiderte er den Blick geradezu herausfordernd. Er musste viel getrunken haben. Seine Zunge war schwer und seine Bewegungen vorsichtig, als wüsste er, dass er sich auf seinen Gleichgewichtssinn nicht mehr verlassen konnte.

      Steve war versucht, mit dem Hinweis auf seine wartende Frau wegzugehen. Der Mann erriet offenbar seine Gedanken, wandte sich an den Wirt hinter der Bar und wies auf ihre beiden leeren Gläser. Der Barkeeper machte Steve ein Zeichen, das so viel heißen sollte wie:

      ›Das können Sie ruhig annehmen.‹

      Vielleicht bedeutete es sogar:

      ›Das sollten Sie lieber annehmen.‹

      Er war keiner von den grölenden Säufern. War er überhaupt ein Säufer? Sein weißes Hemd war so sauber wie das von Steve, das blonde Haar frisch geschnitten, und in dem gebräunten Gesicht kamen die hellblauen Augen besonders zur Geltung.

      Er hielt den Blick auf Steve gerichtet und hob sein Glas. Steve hob seines ebenfalls und leerte es in einem Zug.

      »Danke, meine Frau …«

      Er wagte nicht weiterzureden, wegen des Lächelns, das dem anderen übers Gesicht huschte. Der Mann sah ihm immer noch ins Gesicht und sagte nichts. Man hätte glauben können, dass er alles wusste, dass er ihn so gut kannte wie ein Bruder und ihm seine Gedanken von den Augen ablas.

      Er war betrunken, zugegeben, hatte dabei aber die bitter lächelnde Abgeklärtheit eines Menschen, der in Gott weiß welche Regionen höherer Erkenntnis vorgestoßen war.

      Steve hatte es eilig, zu Nancy zurückzugehen. Gleichzeitig fürchtete er, diesen Mann zu enttäuschen, den er nicht kannte und der ungefähr sein Alter haben musste.

      Der Bar zugewandt sagte er:

      »Noch mal das Gleiche!«

      Er hätte gern etwas gesagt, wusste aber nicht, worüber er reden sollte. Seinem Nachbarn war das Schweigen nicht unangenehm, und er fixierte ihn zufrieden, als ob sie alte Freunde wären, die sich auch ohne Worte verstehen.

      Wie betrunken er war, wurde offensichtlich, als er mit zitternden Händen versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Er merkte es selbst, und sein Blick und die Art, wie er den Mund verzog, sagten ganz klar:

      ›Ich hab getrunken, ja sicher. Ich bin besoffen. Na und?‹

      Es war ein sehr vielsagender Blick, und Steve fühlte sich so unbehaglich, als ob man ihn vor allen Leuten ausgezogen hätte.

      ›Ich weiß. Deine Frau wartet im Auto. Sie macht dir gleich eine Szene. Na und?‹

      Vielleicht hatte der Mann auch erraten, dass Steve Kinder in einem Camp in Maine hatte? Und ein Haus für fünfzehntausend Dollar auf einer Parzelle in Long Island, das er innerhalb von zwölf Jahren abzuzahlen hatte?

      Es musste eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen geben, Gemeinsamkeiten, die Steve gerne entdeckt hätte. Aber der Gedanke, dass seine Frau jetzt seit über zehn Minuten, vielleicht einer Viertelstunde auf ihn wartete, versetzte ihn in eine Art Panik.

      Er bezahlte seine Runde und streckte dem anderen verlegen die Hand hin, der sie ergriff und ihm so fest in die Augen blickte, als wollte er ihm eine geheime Botschaft übermitteln.

      Als Steve zum Ausgang ging, verstummten wieder alle, und er wagte nicht, sich umzudrehen. Er öffnete die Tür und stellte fest, dass es wieder regnete. Er bemerkte, dass unter den parkenden Autos mehrere Lieferwagen waren, schlängelte sich bis zu seinem Wagen durch und blieb wie angewurzelt stehen, als er sah, dass seine Frau nicht drin saß.

      Zuerst dachte er, sie sei ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten, und blickte sich nach ihr um. Jetzt fiel kein Gewitterregen mehr, sondern ein feiner, angenehmer und erfrischender Regen.

      »Nancy!«, rief er halblaut.

      Nirgendwo ein Fußgänger, so weit er die beiden Straßenseiten überblicken konnte. Um ein Haar wäre er in die Bar zurückgegangen, um den Vorfall zu berichten und vielleicht die Polizei anzurufen. Aber als er sich durchs Wagenfenster beugte, fiel sein Blick auf einen Zettel, der auf dem Sitz lag. Nancy hatte ihn aus ihrem Notizbuch gerissen und darauf geschrieben:

      Ich fahre mit dem Bus weiter. Gute Reise!

      Zum zweiten Mal war er versucht, in die Bar zurückzugehen, diesmal, um sich in Gesellschaft des Unbekannten volllaufen zu lassen. Ein paar Lichter in etwa fünfhundert Meter Entfernung brachten ihn jedoch davon ab: Da war eine Kreuzung, wo zweifellos auch die Busse hielten.

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