Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens страница 46

Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild - Carl Wilckens Dreizehn -13-

Скачать книгу

Wesen wie eine Seiltänzerin. Sie balanciert auf einem Faden, mal tänzerisch, mal verträumt, aber nie unsicher. Sie bewahrt stets das Gleichgewicht. Sie ist offen und anregend, hört zu und erzählt. Mal ist sie tiefgründig, mal unbekümmert. Sie lacht über einfache Dinge, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Katze zum Beispiel, die sich auf einer Fensterbank räkelt und herunterfällt, oder ihr eigenes Haar, das sie an der Nase kitzelt. Ein Lächeln legt sich über ihre Augen, ihre kleinen Lippen öffnen sich und zeigen ihre makellos weißen Schneidezähne, ehe sie leise kichert.

      Ich bin diesem Lachen verfallen.

      Ebenso gut kann man, wenn sie willens ist, niveauvolle Gespräche mit ihr führen. Sie versteht schnell und bringt eigene Gedanken ein, die manchmal zu derart komplexen Gebilden heranwachsen, dass ich staunen muss.

      Umgekehrt fühlt Emily sich wohl in meiner Nähe. Sie weiß, ich respektiere ihren Glauben an okkulte Dinge, auch wenn ich ihn nicht teile. Mir gefällt ihre Einstellung. Die meisten Wissenschaftler begreifen nicht, dass ihr unerschütterlicher Glaube an ihr Studium ihnen wie eine massive Backsteinmauer den Weg zu neuen Erkenntnissen versperrt. Emily ist anders. Sie hat begriffen, dass wir letztendlich immer nur glauben, aber niemals wissen.

      Ich muss zugeben, dass der Glaube an Magie und Fabelwesen mich manchmal fasziniert. Wir leben in einer Zeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Unser Planet ist vollständig kartographiert, und ich fürchte den Tag, da es nichts mehr gibt, das wir nicht erklären können. Ist es da närrisch, von verborgenen Orten zu träumen? Magischen Orten wie schwimmenden Inseln oder verwunschenen Tälern?

      Emily weiß, dass ich sie ernst nehme; wenn sie mir ihre Träume schildert, die sie für gute oder schlechte Omen hält, oder wenn sie mir vom Kauf eines Schmuckstückes abrät, weil es eine böse Aura umgibt. Bevor ich sie kennenlernte, hätte ich solche Worte wohl belächelt. Aber Emily lehrte mich, dass ich den Glauben eines Menschen nicht teilen muss, um ihn zu respektieren. Ich denke immer seltener an ihren Ausflug zum Friedhof. Was geschah, wirkt auf mich wie ein seltsamer Traum. Ich frage mich manchmal, ob sie verrückt ist, und komme zu dem Schluss, dass es mir gleich ist. Ich würde sie nicht anders wollen. Bin ich dumm? Oder bloß verliebt? Vermutlich beides …

      Obwohl wir mittlerweile vertraut miteinander sind, weiß ich doch wenig über ihre Herkunft. Ihre Mutter starb bei der Geburt ihres jüngeren Bruders, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Wer also hatte sie großgezogen? Wie bezahlte sie ihre Studiengebühren? Und was war aus ihrem kleinen Bruder geworden? Emily wich mir nicht aus, als ich ihr diese Fragen stellte. Sie sagte deutlich, dass sie nicht darüber reden wolle. Noch nicht. Es liegt nahe, dass sie eine schwere Zeit durchlebt hat, aber ich komme nicht umhin, zu bemerken, dass ihre geheimnisvolle Vergangenheit sie noch anziehender macht. Ich weiß nicht mehr, ob sie wirklich schön ist, oder ob ihre innere Schönheit mich blendet. Aber spielt das eine Rolle?

      Am gestrigen Abend wartete das Meer uns mit einer besonderen Attraktion auf. Emily und ich spazierten wie schon so manches Mal die Promenade entlang. Angefangen beim Frachtschiffhafen mit dem Dampfschiff machten wir einen großen Bogen um das Fourier, vorbei am Marktplatz, vorbei am Fischereihafen und erreichten zuletzt Kap Peek mit dem Leuchtturm an seiner Spitze, dem Freund der Seefahrer, der der tückischen See schon so manches Mal ein Schnippchen geschlagen hatte. Auf dem Rückweg erinnerte nur noch ein oranger Lichtstreif an den vergangenen Tag. Die Gasleuchten entlang der Promenade brannten und zeichneten facettenreiche Schatten auf den Boden.

      „Sieh mal“, raunte Emily, als wir auf Höhe des Marktplatzes angelangt waren, und deutete voraus. „Jemand hat einen Ballon an dieser Straßenlaterne festgemacht.“

      Ich verengte die Augen zu Schlitzen. Tatsächlich schien es auf die Entfernung so, wie Emily sagte. Ein rundes Objekt schwebte über der Leuchte in der Luft und war mit Seilen oder etwas Ähnlichem daran verankert. Darunter hatte sich eine Menschenmenge versammelt.

      Während wir näher kamen, offenbarte sich uns, worum es sich tatsächlich handelte. Noch nie in meinem Leben durfte ich Zeuge eines vergleichbaren Anblicks werden. Einige Meter über der Leuchte schwebte ein Geschöpf, das einer riesigen Qualle ähnelte. Eine Riesenpilzmedusa. Der ‚Fruchtkörper‘, wie man den pilzähnlichen Leib dieser Geschöpfe nennt, maß etwa einen Meter im Durchmesser. Das Tier hatte die Tentakel um den Lichtmast der Gasleuchte geschlungen und wiegte rhythmisch auf und ab. Gerade, als wir uns der staunenden Menge anschlossen, fing die Medusa zu leuchten an. Türkise Sterne erstrahlten auf der Oberfläche des Tiers wie leuchtende Punkte auf einem Fliegenpilz, feine Äderchen durchzogen den durchsichtigen Leib und der Saum des Fruchtkörpers leuchtete wie flüssiges Mondlicht. Die Menge stöhnte.

      „Dies, verehrte Damen und Herren, ist eine Riesenpilzmedusa, oder wie wir Wissenschaftler diese Geschöpfe nennen: Aurelia Maxima.“ Ein Mann mit Brille und gepflegtem Vollbart stellte sich auf eine Sitzbank unterhalb der Medusa und erhob sich somit über die Köpfe aller anderen. In seinem Mund steckte eine Pfeife. Tiefe Falten in den Augenwinkeln zeugten von einem freundlichen Gemüt.

      Die Menge verstummte und wartete gespannt auf weitere Informationen. Der Mann ließ sich Zeit. Rauchstrahlen stoben ihm aus der Nase und quollen ihm zwischen den Lippen hervor, ehe er die Pfeife herausnahm.

      „Dieses Exemplar ist noch sehr jung“, sagte er und deutete mit dem Stiel der Pfeife nach oben. „Ausgewachsene Tiere haben im Durchschnitt einen Durchmesser von drei Metern. Das größte Exemplar, dessen Umfang je gemessen wurde, maß im Durchmesser über viereinhalb Meter.“ Ein Raunen ging durch die Menge. „Riesenpilzmedusen ernähren sich ausschließlich von Wasser, Luft und Sonnenlicht.“

      „Also betreiben sie Photosynthese?“, fragte jemand aus der Menge.

      Der Mann lächelte. „Hören Sie das? Studenten sind unter uns.“ Einige lachten. „Nein, Riesenpilzmedusen können kein eigenes Chlorophyll synthetisieren. Sie leben in Symbiose mit Algen. Die Algen befinden sich von Geburt an in ihrem Leib. Die Medusen versorgen sie mit Wasser und allen nötigen Nährstoffen. Wie Sie vielleicht sehen, verehrte Damen und Herren, hängen einige Tentakel des Medusajungen noch immer im Wasser.“ Erst jetzt, da der Biologe es sagte, bemerkte ich die Schnüre. Im schwindenden Tageslicht waren sie kaum zu sehen. „Riesenpilzmedusen transpirieren Wasser über ihre Oberfläche. Dadurch entsteht ein sogenannter Transpirationssog, der frisches Wasser über feine Leitungen in den Tentakeln nachzieht. Die Algen im Innern der Tiere werden bestens versorgt und müssen dazu bloß einen kleinen Teil ihrer erwirtschafteten Energie an die Medusen abgeben.“

      „Warum hält dieses Vieh sich an der Leuchte fest?“, fragte jemand aus der Menge, der Ausdrucksweise nach zu schließen kein Student.

      „Nun, wie es scheint, wurde dieses Junge von seiner Herde getrennt, vielleicht während des Sturms vor drei Vierteln. Jungtiere halten sich von Zeit zu Zeit an den Tentakeln ihrer Eltern fest. Offensichtlich hält dieses hier die Straßenlaterne für einen biolumineszierenden Artgenossen.“ Verhaltenes Lachen ging durch die Reihen der Staunenden.

      Wir bewunderten noch lange das Medusajunge, bis es sich schließlich von der Straßenlaterne löste und mit dem Wind aufs offene Meer hinaustrieb. Während Emily und ich Arm in Arm beobachteten, wie sein leuchtender Leib schrumpfte, gab es jäh ein langgezogenes Klagen von sich, das an das Heulen eines einsamen Wolfes erinnerte. Nur war es dunkler und viel lauter. Der Ton verlor sich in der Ferne. Ich hoffte innig, dass der Ruf dieses verlorenen Geschöpfes irgendwo auf die Ohren seiner Herde traf.

      „Danke, William“, sagte Emily, als wir spät nachts im Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür standen.

      „Wofür?“

      „Für diese unvergessliche Nacht.“

      Ich wollte sagen, dass es nicht mein Verdienst sei, diesem Medusajungen begegnet zu sein, da kam Emily

Скачать книгу