Die Chroniken des Südviertels. Rimantas Kmita
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Читать онлайн книгу Die Chroniken des Südviertels - Rimantas Kmita страница 8
»Das Lesen bringt uns zum Lachen, hebt die Stimmung«, fuhr sie fort. Wie ausm Buch.
»Meinen Sie damit vielleicht den Hain von Anykščiai? Was meinen Sie, welche Note Sie mir geben, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich beim Lesen dieses Buches laut lache?«
»Wenn du mir erklären würdest, warum du dabei lachst, eine Eins. Und eine weitere Eins für zehn gelesene Bücher. Du legst mir die Liste vor, ich stelle dir die eine oder andere Frage zu diesen Büchern und schon hast du eine Eins.«
Das gefiel mir. Das war konkret. Vielleicht gar keine so üble Paukerin. N paar Broschüren durchblättern und basta. Wie lange konnte das schon dauern.
»In Ordnung«, sagte ich. »Und welche Bücher machen denn gute Laune?«
»Versuche es doch mit Erlickas«, sagte die Lehrerin so, dass es fast nach einer Verschwörung zwischen uns klang.
»Also gut, ich versuchs.«
Eigentlich hatte ich jeden Tag Training und kaum Zeit, mir das Hirn zu verrenken. Man nahm mich schon mit zu den Männern, also spielte ich jetzt in drei Altersgruppen. Haufenweise Training und Spiele. Mutter sagte ich, dass ich zum Deutschlernen zu nem Kumpel aus der Schule gehe. Um für die Erwachsenen zu spielen, brauchte ich das Einverständnis meiner Eltern. Ich brachte dem Trainer diesen Wisch, natürlich selbstfabriziert. Mir wäre nicht mal im Traum eingefallen, Mutter darum zu bitten, denn sie hätte ihn garantiert nicht unterschrieben und meine außerschulischen Aktivitäten unter die Lupe genommen.
Meine Mum wäre nie im Leben damit einverstanden, dass ich mit den Erwachsenen Rugby spiele. Sie war fest davon überzeugt, dass es nix weiter als ne Schlägerei ist. Ich kann sie ja verstehen, auch ich dachte einst ähnlich, als ich noch keinen Ball in die Hand genommen hatte: Die schlagen, treten, kratzen, aber da heil rauszukommen – vergiss es! Genau so dachte auch ich, bis ich noch als Kind mein erstes Training im Žaliūkiai-Stadion beobachtete. Aus dem Gebüsch, weil ich nicht wusste, dass sie Gaffer wie mich ungeschoren ziehen lassen.
Für Mutter war jeder blaue Fleck gleich dem Ende der Welt. Deshalb folgte ich ihrem Wunsch und ging in der Grundschule zum Tanzen. Aber das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist die Angst, den Fuß nicht richtig hinzustellen, als Tollpatsch dazustehen oder mitm falschen Hemd zum Auftritt zu erscheinen. An irgendeine Partnerin kann ich mich nicht erinnern. Dafür aber daran, dass die Tanzlehrerin mir einmal ne Watsche verpasste, weil ich n paarmal gefehlt hatte. Sie übten im Sommer für irgendwas, während ich aufm Land war. Was hätte ich Schnösel den Eltern denn sagen sollen – ich fahre nicht aufs Land, ich habe Tanzen? Genau diese Ohrfeige veränderte meine Sicht auf blaue Flecken und Ähnliches.
Erst trainierte ich Basketball, später in allen möglichen Muckibuden im Südviertel, in Judoklubs im Keller, aber schließlich kristallisierten sich zwei Varianten heraus: Rugby oder Boxen.
Ich sah mir nämlich manchmal Boxkämpfe an – im kleinen Saal unterm Bahnviadukt. Und Rugby spielte mein Nachbar, mit dem ging ich dann hin. Der Trainer erklärte mir die Regeln und los gings. Alle auf einem Haufen, alle rauften sich um den Ball, ich zerrte sie auf meine Seite. Es war Winter, deshalb fand das Training in der Basketballhalle statt. Ich schleifte Haufen und Ball durch die halbe Halle, der Trainer hielt das Spiel an, sagte, weißte, du hast alle auf deine Seite gezerrt, dabei musste sie auf die gegnerische Seite schieben. Das ist die wichtigste Regel. Seither dränge ich alle auf ihre Seite, bis zur Mallinie.
Man nahm mich direkt ins Team auf. N Haufen Matches und Turniere, und wir gewannen irgendwie immer. Na ja, fast immer. Wenn du aus den Kellern der Muckibuden und Judoklubs kommst, dann schnappste hier echt frische Luft. Und ich spielte nicht nur, es sah fast so aus, als würde ich zu den Stützen des Teams gehören.
Ein interessantes Gefühl. Ich hattes sofort drauf, man hätte glauben können, ich hätte schon immer Rugby gespielt. Aber das war was total anderes als Basketball, wo du Jordan nachmachst und unterm Korb hindurchfliegst, um den Ball von der anderen Seite zu versenken, oder wie Kurtinaitis nen Dreier zu werfen versuchst. Im TV kam kein Rugby, so konnte ich nur den Männern von Vairas beim Spielen zusehen. Wir trainierten in allen möglichen Stadien, aber die erinnerten eher an Wildschweingehege. Trampelpfade mitten übern Platz. In die normalen Stadien ließ man nicht mal die Männer. Mag sein, dass ich n einziges Mal n Spiel der Nationalmannschaft im Zentralstadion bei der Manege gesehen habe.
Wir trainierten und spielten mit Gummiturnschuhen, denn normale Kickerschuhe gab es nur für die Älteren, und selbst wenn du Geld wie Heu hast, suchste in den Sportgeschäften vergeblich nach Rugbyschuhen, denn in Litauen existierte dieser Sport kaum. Oder nur in Šiauliai. Als mir jemand fürn wichtiges Match echte Stollenschuhe borgte, da schien es mir, als würde ich wie n Panzer übern Platz rollen. Keine Angst, dass jemand dir auf die Füße tritt oder vor was auch immer – du schiebst alle glatt, ohne dich abzustoßen, vor dir her, und niemand in Turnschuhen holt dich ein.
Erst viel später lernte ich die Regeln und noch später hörte ich sagen, Rugby ist n Spiel für Rowdys, das von Gentlemen gespielt wird, während Fußball n Spiel für Gentlemen sei, das von Rowdys gespielt wird. Wir waren vielleicht keine Gentlemen, aber jeder wusste, dass es unter aller Sau ist, den sterbenden Schwan zu spielen, wenn dich jemand n bisschen geschubst hat. Nicht wie beim Fußball. Aber wie sollte ich das meiner Mum verklickern? Sie wusste hundertpro, dass wir uns beim Rugby prügelten. Ich hatte sie zwar schon mehrmals zu nem Spiel eingeladen, aber sie hatte Angst. Ja, sie hatte Schiss, und ich konnte ihr nicht erklären, wies wirklich war, also fälschte ich den Wisch, denn derjenige, der ihn hätte unterschreiben sollen, hatte keinen blassen Dunst von dem, was dort stand. Ich hielt das für ehrlich und fühlte mich keineswegs so, als würde ich jemanden betrügen.
Einige von den Älteren hatten Satellit zu Hause und erzählten manchmal von Spielen in England oder Neuseeland. Erst vor kurzem hatte mir jemand zum ersten Mal von Lomu erzählt, und schon an seinen Augen war abzulesen, dass er der beste Spieler der Welt war. Lomu. Ich sagte zu mir, dem würde ich eines Tages übern Weg laufen. Mir reichte, dass irgendwo einer wie n Gott Rugby spielte, und ich wusste, dass ich diese Wunderwelt sehen musste. Ab nach England und zusehen, wie sie dort fighten. Oder warten, bis Neuseeland in Europa spielte. Ich hatte zwar keine Peilung, was die Reise kosten würde, aber ich begann Rap zu hören und versuchte n wenig Englisch zu lernen. Fürn Moment aber musste ich unbedingt n Paar anständige Stollenschuhe auftreiben. Und nen eigenen Ball, um aufm Hof Tag und Nacht zu kicken … Aber wovon labere ich da überhaupt – mir fehlte es nicht nur am nötigen Kleingeld, ich wusste ja nicht mal, wo ich die kaufen sollte. Hier gab es so was ganz sicher nicht in den Sportgeschäften. Ich musste Dad bitten, mir welche aus Deutschland mitzubringen oder so.
Natürlich gab es unter uns nicht gerade viele Gentlemen, aber das Wichtigste war, aus eigener Kraft zu gewinnen und nicht durch Schauspielern und mit tatkräftiger Mithilfe des Schiris. Es kam vor, dass irgendn Schlaukopf einem am Boden Liegenden mitm Schuh aufn Kopf zu treten versuchte, wenn der Schiri es nicht sah, aber unsere Latschen hatten Gummisohlen. Echte, harte Sohlen mit Stollen, das war n Fest, aber der Trainer brachte nur für die Besten welche ausm Ausland mit. Deshalb war Maloche angesagt, keine Zeit mehr für Plakate, die verkauften sich eh nur schleppend, denn alle hielten Fressalien und Klamotten für wichtiger.
Wie Ostern und Weihnachten zugleich aber war, als wir erfuhren, dass die Herrenmannschaft bald zu nem Turnier nach Polen reisen würde. Also noch mehr ackern und sich noch weniger den Kopf zerbrechen. Nach der Ukraine das erste halb normale Ausland. Lettland zählte nicht. Nicht nur Sightseeing wäre angesagt, ich könnte auch aufm Markt was verscherbeln, meine Finanzen aufpeppen. Und auch die Eltern hätten