Die Chroniken des Südviertels. Rimantas Kmita

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Die Chroniken des Südviertels - Rimantas Kmita

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die nicht bis Riga fahren wollen, steigen hier aus und breiten ihre Waren direkt am Bahnhof aus – Margarine, Öl, Butter. Dazu brauchen sie keine Marktstände, sie legen alles auf die Kisten, in denen sie die Waren transportieren. Ihr Geschäft läuft gut, Strahlung hin oder her. Wenn sie es essen und nicht krepieren, dann können wir das auch. Die Bahnhofsklos haben die Preise hochgeschraubt, denn die waschen sich dort alle. Mit einem Wort – n Saustall.

      Wir hatten vor, wie immer vorzugehen: Die Ukrainer steigen aus, du gehst zu ihnen und sagst, ich nehme die ganze Tasche. Dann verschwindeste um die Ecke, rechnest nach, blätterst die vereinbarte Summe hin und machst dich mit der Ware ausm Staub. Nachdem hier vor kurzem n Typ nen anderen erschossen hat, waren jetzt alle ruhig, schrien nicht rum, man konnte sich in Ruhe unterhalten und den Preis aushandeln. Man will ja auch selbst was verdienen bei der Sache.

      Aber diesmal überfielen die Omas den Bahnhof in Horden. Wir dachten schon, sie würden den Ukrainern die Taschen aus der Hand reißen und abhauen. Als wären wir hier alle am Arsch und würden vor Hunger sterben. Die Rentner sind einfach abgefahren. Die Bullen versuchten noch Ordnung zu schaffen, blökten durch ihre Megafone auf Russisch, am Bahnhof ist der Handel verboten, aber als sie wieder damit anfingen, brüllten die Omas sie nieder und sagten, geht ihr doch die Gangster jagen, die uns erpressen, und lasst die armen Leute hier in Frieden. Die Polypen machen sichs einfach, belästigen die Älteren, die Jüngeren lassen sich ja von ihnen nix sagen. Bei denen arbeiten ja auch nur noch solche, die nur mit den Rentnern und Ukrainern fertig wurden.

      Wir nahmen ihnen diesmal die Würste ab. Die wurden sie nur mit Mühe los, weil alle vor der Trichinellose Angst hatten. Wir kauften sie billig und würden sie ohne Etiketten als litauische verscherbeln. Klar doch, bei der Ukraine dachte man sofort an Tschernobyl und die Trichinellose, am Kiosk aber – alles okay. Dort brachte man sie als lokales Produkt für nen ganz anderen Preis los. Außerdem nahmen wir noch n paar Flaschen Wodka – wir kannten einige besonders Durstige – und verkauften n paar Bucks. N Kinderspiel, aber wir durften die Form nicht verlieren, mussten den Puls der Zeit spüren. Und weiter? Im Hof rumlungern, nein danke, und überhaupt, noch so n Scheiß wie mit Edita konnte ich nicht brauchen. Die Disco – auch nicht das Gelbe vom Ei. Also lag ich jetzt abends im Bett und glotzte TV. Manchmal bis zwei oder drei. Mum steckte ihren Kopf durch die Tür und fragte:

      »Was schaust du da?«

      »Deutsches Fernsehen.«

      »Das ist doch nur für Erwachsene?«

      »Ich bin ja kein Kind mehr. Und überhaupt: Ich lerne Deutsch. Die Wörter bleiben besser hängen. Die neue Lehrerin nimmt uns tüchtig ran.«

      »Na, dann schau mal, du Deutscher du.«

      Ich begriff gar nicht, wovor mich meine Mutter schützen wollte. Stimmt, sie wechselte die Bettwäsche und sah die Flecken, die diese nächtlichen TV-Sessions hinterließen, aber was war das schon – ich kann es benennen: Ejakulation, Pollution oder so was. Aber sie würde mich nicht danach fragen und ichs mit keinem Wort erwähnen. Was das betraf, musste ich in meinem Kopf für Ordnung sorgen, denn er war viel zu sehr mit Informationen vollgestopft. Dass ich davon an den Armen nen Affenpelz bekäme, das glaubte ich nicht wirklich, aber dass mir der Samen mit dreißig oder so ausginge und weder Magazine noch Sexstreifen mir mehr helfen könnten, das kam mir gar nicht so unwahrscheinlich vor. Vielleicht floss ja mitm Sperma wirklich das Hirn ausm Körper, vielleicht war ja nur noch ganz wenig davon übrig, irgendwie lief alles in letzter Zeit nicht mehr so rund … Aber da konnte man nix machen. Ich bemühte mich, es weniger oft zu tun, na, so zweimal pro Woche, aber dann dachte ich mir – wozu denn? Was machte es für nen Unterschied – zwei-, vier- oder neunmal? Außerdem war ich fest davon überzeugt, dass vom Wichsen die Pickel verschwanden, und das war jetzt bedeutend wichtiger. Und auch wenn keine Veränderungen bei meiner Haut eintraten, so würden sie das vielleicht schon bald, ich durfte nur nicht die Arme hängen lassen. Ihr seht, das war eher mein Problem, und meine Mum war auch keine Nonne.

      Eine Nonne war unsere Deutschlehrerin aus Österreich. Und mit dem Deutsch, das war absolut ätzend. Stellt euch mal vor, sie erklärt uns alles ganz ausführlich, und wir verstehen rein gar nichts. Na ja, nur einzelne Wörter. Aber was nützte uns das, wenn sie uns das Plusquamperfekt erklären wollte. Was ist denn dieses Plusquamperfekt? Wir verstanden erst mal nur Bahnhof. Sie redete, redete und redete, und dann fragte sie, ob wir ferstejen. Nain, riefen wir ihr beinahe im Chor entgegen. Sie versuchte sich einfacher auszudrücken, aber wir kapierten immer noch nichts. Aber was willste denn? Sie erklärte uns auf Deutsch das Plusquamperfekt und ähnlichen Scheiß, der uns schon auf Litauisch viel zu hoch war.

      Nachm ersten Schock rissen wir die Initiative an uns. Also, du fährst jetzt nach Hause. Nicht weil uns ne andere Lehrerin besser gefällt und wir unbedingt Deutsch lernen wollen, aber du bist hergekommen, um uns zu belehren – schaut nur, die sind völlig unterbelichtet. Niemand machte Hausaufgaben, wir schenkten ihr fast keine Beachtung. Wir brachten die Nonne schließlich dazu, dass sie – wohl zum ersten Mal in ihrem Leben – jemanden anbrüllte. Sie schrie ihn an, erschrak und dampfte flennend ab zum Direktor. Und wir – wir fühlten uns unschuldig, denn wir konnten ja nix erklären, brachten ja nicht einmal nen geraden Satz hin. Aber dann tat sie uns leid. Sie war wirklich ne Nonne, man konnte es an ihren Augen ablesen, dass sie unschuldig war, und sie hatte ja nicht gewusst, wo sie hinfahren würde. Also rafften wir schließlich irgendwie, wie diese Übungen gemacht werden mussten, obwohl wir keinen blassen Schimmer davon hatten, wie wir die Namen der grammatikalischen Konstruktionen übersetzen sollten, die sie uns da erklärte. Aber vielleicht war das ja schnuppe, wozu Deutsch – die Sprache ist ja völlig nebensächlich beim Glotzen der erotischen Sendungen spät abends.

      Ach ja, wir hatten noch ne neue Lehrerin bekommen, für Litauisch. Irgendwie zum Lachen. Fragte, ob wir zu Hause lesen. Ich bejahte. Sie fragte, was denn. Zeitungen, sagte ich. Sie lächelte. Zeitungen sind gut, sagte sie, aber die habe ich nicht gemeint. Ich kapierte nicht, warum Zeitungen nicht gemeint waren. Bücher sollten wir lesen, sagte sie.

      »Und was bringt mir denn das Bücherlesen? Wenn ich den vor fast anderthalb Jahrhunderten geschriebenen Hain von Anykščiai lese, erfahre ich dann was? Lerne ich was dabei?«

      »Und was hast du von diesen Zeitungen? In einem Jahr wirst du alles vergessen haben«, entgegnete die Lehrerin.

      Na ja, ich weiß ja nicht, aber das Foto der Popsängerin Džordana in unserer Regionalzeitung Šiaulių kraštas wird mir noch lange nicht ausm Kopf gehen. Darauf steht sie da, die Hände vorm Bauch verschränkt, fast wie Sabrina, nur dass die größere Titten hat. Nur in Jeans und BH mit so Spitzen verziert. Die Haare wehend, die Lippen … Klar sagte ich nix davon.

      »Die Nachrichten, das Neueste, man weiß, was auf der Welt passiert …«

      »Das Lesen lässt den Menschen begreifen, wozu er lebt, und nicht, was rundherum geschieht.«

      »Ist Ihnen das denn nicht klar? Mir schon.«

      »Wozu denn?«

      »Er lebt für sich selbst.«

      Ehrlich gesagt zerbrach ich mir darüber nicht den Kopf.

      »Das Lesen kann dabei helfen, die anderen zu verstehen, mit ihnen zu kommunizieren.«

      »Mir ist auch so alles klar. Ich habe irgendwie keine Probleme mit der Kommunikation.«

      Ganz im Ernst. Weder mit den Typen ausm Zentrum, den Punks und so, noch mit den Ukrainern und auch nicht mit den Kunden aufm Markt in Riga kam es je zu Missverständnissen. In Riga gab es auch gar nix zu erklären, über den Preis einigten wir uns immer irgendwie, dachte ich bei mir.

      »Das Bücherlesen erweitert euren

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