Great again?. Julia Kastein

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in diesem Teil der Appalachen – zu den artenreichsten Wäldern der USA.

      Wir spazieren die historische Ladenzeile entlang und sind verblüfft: Hier eine Galerie mit Grafiken und Kinderbuchillustrationen, dort eine mit experimenteller Fotografie. Noch eine mit Malerei. Dazwischen das »Cotrill’s Opera House« mit den bodentiefen Fenstern mit Rundbögen im zweiten Stock. Sogar ein Opernhaus, das gleichzeitig Varieté und Restaurant war, konnte sich Thomas in seiner Blütezeit leisten, lernen wir vom Schild davor. Jetzt residiert in dem notdürftig sanierten Gebäude das Büro von »Art Spring«. Die Künstlergemeinschaft ist mit ihrem jährlichen Festival und vielen Veranstaltungen und Ausstellungen für die erstaunliche Renaissance von Thomas mitverantwortlich. Doch den entscheidenden Impuls gab ein Mann namens John Bright, wie ich Wochen später erfahre: der Besitzer der »Purple Fiddle«.

      Das Konzert mit den vielen melancholischen Liebesliedern von »June Star« ist eines der letzen in der »Fiddle«. Ab Mitte März 2020 ist Schluss. Die Corona-Pandemie hat auch Thomas erreicht. Weniger das Virus selbst: Im ganzen Landkreis gibt es in den ersten drei Monaten der Pandemie nur vier Infektionsfälle. Aber auch Thomas muss, wie die gesamten USA, in den Lockdown. Und wie in vielen Gegenden sind die wirtschaftlichen Auswirkungen verheerend.

      Ende Mai fahre ich noch einmal nach Thomas. In den USA, wie im Rest der Welt, tobt längst die Diskussion, ob die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht völlig übertrieben waren. Ob der wirtschaftliche Schaden, der dadurch angerichtet wurde, nicht schlimmer ist als Erkrankungen und Tote. Wie sieht man das wohl in der amerikanischen Provinz?

      In West Virginia mit seinen knapp 1,8 Millionen Einwohnern gab es bis Anfang Juni nur gut 2 000 Covid-19-Fälle. Und 78 Tote. Zum Vergleich: In Hamburg mit nur wenig mehr Einwohnern waren es über 5 000 Fälle und über 200 Tote. Schon vor Corona war dieser dünn besiedelte ländliche Bundesstaat der viertärmste in den USA. Im Februar lag die Arbeitslosenquote hier bei 5 Prozent. Im Mai waren es 15 Prozent. In Tucker County, zu dem auch Thomas gehört, sind es sogar 18 Prozent.

      Ich treffe John Bright, den Besitzer der »Purple Fiddle« auf der Terrasse der Kneipe. Die Picknicktische stehen in großem Abstand. Werktags ist immer noch geschlossen.

      Die »Purple Fiddle« ist ein rostroter Bau mit lila Holzsäulen und einer langen Geschichte. Sie war nicht immer Konzertkneipe, erzählt John stolz. 1915 wurde das Gebäude von der Familie DePollo gebaut. Die DePollos waren Einwanderer aus Italien, die wie so viele in dieser Zeit in der boomenden Bergbauregion ihren amerikanischen Traum verwirklichten. Bis in die frühen 1990er Jahre betrieb die Familie, inzwischen in der dritten Generation, in Thomas einen »General Store«. Der riesige schwarze Safe von damals, mit geschwungenen Füßchen und Messingbeschlägen, steht immer noch neben der Eingangstür. »Das hier war der Walmart von Thomas. Hier gab es alles: Lebensmittel, Bier, Stiefel, Helme, Lampen«, erzählt John.

      Ein Laster mit Baumstämmen dröhnt vorbei. Die pittoreske Hauptstraße von Thomas ist offiziell ein Highway. Der gesamte Verkehr, der von Westen in Richtung Ostküste will, donnert hier durch. Früher waren auch viele Kohlelaster dabei. Die Zeiten sind lange vorbei: Die Flöze unter dem Stadtgebiet sind längst erschöpft. In ganz Tucker County gibt es nur noch einen einzigen aktiven Bergbau.

      Der Niedergang kam langsam: In den 1910er Jahren, als nach einem Stadtbrand die meisten Häuser entlang der East Avenue, der Hauptstraße, neu gebaut wurden, lebten 2 500 Menschen in Thomas. 1940 waren es noch rund 1 400, zwei Jahrzehnte später dann nur noch 800 Menschen. Um die Jahrtausendwende schien sich der Trend kurzfristig zu drehen: Von 450 stieg die Einwohnerzahl wieder auf 580.

      In dieser Zeit ließ sich auch John Bright in Thomas nieder: »Das war kurz nach dem 11. September 2001, also der letzten nationalen Krise. Ich habe damals in Charleston, West Virginia, gelebt. Da gibt es viel Chemieindustrie. Und ich hatte Angst, dass es ein Terrorziel werden könnte. Auf dem Land schien es mir und meiner damaligen Frau viel sicherer. Deshalb haben wir uns hier umgesehen.«

      John, der früher als Fotojournalist für den Gouverneur von West Virginia arbeitete, zieht eine Grimasse: »Also, eigentlich war es natürlich total idiotisch, einen sicheren Job aufzugeben und stattdessen so was hier zu riskieren. Aber man lebt nur einmal und hat nur eine Chance, seinen Lebenstraum zu erfüllen.«

      Mit seinem Kurzhaarschnitt, der getönten Brille und dem blau gemusterten kurzärmeligen Hemd sieht der 56-Jährige so gar nicht aus, wie ich mir einen musikverrückten Aussteiger in der Provinz vorgestellt habe. Er sei auch kein Musiker, sagt John, sondern nur Musikliebhaber. »Ich würde alle Eltern davor warnen, ihren Kindern etwas ausreden zu wollen. Als ich fünfzehn war, habe ich all mein Taschengeld in Alben investiert. Meine Mutter hat mich dann immer ausgeschimpft: Warum verschwendest du so viel auf die Musik. Und jetzt habe ich eine Konzertkneipe und buche die Bands, die hier spielen.«

      Über zehn Jahre hat John gebraucht, um aus der »Purple Fiddle« einen überregional bekannten Musiktreff zu machen, der Bands und Publikum von der gesamten Ostküste anzieht. Jetzt fürchtet er um sein Lebenswerk: »Wir sind eigentlich als Konzertschuppen bekannt. Und wir haben keine Ahnung, wann wir wieder Konzerte, Livemusik machen können.« Zwar darf John die Terrasse seit ein paar Wochen wieder bewirtschaften, aber noch sind die Touristen nicht zurück, die hier im malerischen Canaan Valley im Sommer wandern und im Winter Ski fahren. Um über die Runden zu kommen, jobbt John nebenher als Pizzalieferant. Und er hat die laufenden Kosten so weit wie möglich gesenkt: Statt neun Kühlschränken laufen nur noch zwei. Auf Satellitenradio und -fernsehen verzichten er und sein 17-jähriger Sohn jetzt auch erst einmal. Und seine zwölf Mitarbeiter musste John gehen lassen: »Die Regierung zahlt den Leuten gerade mehr, um zu Hause bleiben, als ich ihnen hier an Lohn geben kann. Sie kriegen sechshundert Dollar zusätzlich Arbeitslosenhilfe. Also warte ich, bis diese Programme auslaufen, damit ich wieder mehr Leute einstellen kann.«

      John ist es ganz recht, dass noch nicht so viele Leute kommen: Er hat Angst, dass sich jemand anstecken könnte. »Ich glaube nicht, dass wir vorsichtig genug sein können. Sonst müssen wir nur wieder in den Lockdown gehen. Ich weiß, viele Leute sagen: ›Wir hätten nie alles dicht machen sollen, der Schaden für die Wirtschaft ist zu hoch.‹ Aber kann man wirklich ein Leben in Dollar aufwiegen?«

      Seth Pitt sieht das ganz ähnlich. Der Mittdreißiger in kunstvoll verknautschtem Lederhut und Designerleinenhemd würde perfekt in den Biergarten der Leipziger Baumwollspinnerei passen. Stattdessen lebt der Künstler und Galerist seit fünfzehn Jahren in Thomas. »Ich bin aus einer Laune heraus hier gelandet: Irgendjemand hat mir erzählt: ›Du wirst es lieben. Die Mieten sind niedrig. Es gibt einen guten Job.‹ Und als ich herkam, haben mir die Leute so gut gefallen. Die Landschaft ist schön. Aber vor allem ist es einfach eine tolle Gemeinschaft hier.«

      Inzwischen hat Thomas eine Kunstszene, die man eher in einem urbanen Hipster-Viertel als in der Provinz vermuten würde. Die Galerien, eine Textildesignerin, ein Laden mit Kunstbedarf. Auch der Fotograf John Ryan »J. R.« Brubaker, der in Belgien Kunst studiert hat, lebt jetzt hier. Dabei wollte er ursprünglich nur einen Freund besuchen: »In den ersten 72 Stunden hier habe ich mich zu Hause gefühlt und Freunde gefunden. Es ist eine unheimlich kreative und inspirierende Umgebung und noch dazu mitten im Wald.« J. R., mit grau werdendem Vollbart und Fidel-Kappe, spielt mit der Stoffmaske um seinen Hals. »Damals war hier noch gar nichts los. Und auch das hat mich angezogen. Ich habe vorher in einer Stadt gelebt und brauchte mehr Platz für ein Atelier. Und ich wusste: Ich will nicht nur Kunst machen, sondern sie auch zeigen.«

      Die Michigan-Connection – viele der rund dreißig Kreativen in Thomas stammen wie Seth und J. R. aus dem mittleren Westen – dominiert nicht nur optisch das Bild der historischen Altstadt von Thomas. Die Künstler sind auch wirtschaftlich wichtig für den Ort: Die Ausstellungen und Rundgänge ziehen hunderte Besucher an. Kundschaft für die Trödelläden und das »Tip-Top«-Café, in dem der Cappuccino mit Sojamilch so schmeckt und so viel kostet wie in Brooklyn oder Pacific Heights. Und die Künstler investieren: Seth und J. R.

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