Aareschwimmen. Tony Dreher
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Vor zwei Jahren hatte Mike mit einem zweiteiligen Artikel über die neue Generation von Gefahren und Risiken im Internet seinen ersten journalistischen Erfolg gelandet. Mehrere Schweizer Tageszeitungen hatten den Artikel veröffentlicht, und dank einer deutschen IT-Fachzeitschrift wurde er auch außerhalb der Schweiz gelesen. Sicherheitsspezialisten hatten ihm geholfen, die technischen Grundlagen zu erarbeiten. Die brisantesten Informationen seines Artikels stammten jedoch von jemandem aus der Hackerszene, der sich als ›spider‹ ausgab. Ob es sich bei diesem Hacker um einen sogenannten ethischen Hacker handelte, der keinen Schaden anrichtete, oder ob es sich um jemanden handelte, der in Systeme einbrach, um Daten zu entwenden, und schädliche Viren und anderes mehr entwickelte, hatte Mike nicht wissen wollen. Er hatte mit spider immer nur online kommuniziert und wusste nicht einmal, ob es sich bei spider um eine Person oder um eine Gruppe handelte, im Internet anonym und versteckt zu einer Einheit vernetzt. Ein virtueller Partner irgendwo auf der Welt.
Er blickte auf den Bildschirm. Gab es diesen spider überhaupt noch? Würde er ihm antworten? Und wenn ja, konnte er ihm in Denver weiterhelfen?
Mike erwachte aus einem Traum, konnte sich aber an dessen Inhalt nicht erinnern. Er lag immer noch angekleidet auf der Couch. Im Licht des Bildschirms ging er durch das inzwischen dunkle Zimmer zu seinem Pult, um die eingegangenen Mails zu prüfen. Vor wenigen Minuten war tatsächlich eine Mail eingegangen. Er hatte den Piepston, den sie auslöste, im Schlaf nicht gehört. Er öffnete aufgeregt mit einem Doppelklick den Inhalt. Die Mail bestand aus einer einzigen Zeile, ein Link. Er klickte darauf. Ein Augenblick lang geschah nichts, dann hörte er die Festplatte des Computers arbeiten. Auf dem Bildschirm erschien ein Fenster mit der Frage ›Möchten Sie spider installieren?‹. Nach dem Klick auf ›ja‹ vergingen nur wenige Sekunden, bis sich ein Chatbereich auf dem Bildschirm öffnete. Der Cursor blinkte langsam im leeren Fenster. Mike schaute gespannt auf die ersten Buchstaben, die spider irgendwo in der Welt eintippte.
»Lange nichts mehr gehört, Mike.«
Mike zog die Tastatur näher an sich heran und antwortete schnell: »Hi spider. Brauche deine Hilfe, um einen Kriminalfall zu lösen.«
»Ruf die Bullen, tschüss.«
»Nein, warte. Ich brauche echt deine Hilfe.«
»Du hast 30 Sekunden.«
»Ich berichte über einen Mord und suche nach der Identität der Leiche.«
»Nicht so mein Ding. Warum steckst du da drin?«
»Polizei behauptet, der Mord hätte nie stattgefunden. Ich habe die Leiche aber gesehen. Etwas an der ganzen Geschichte ist faul.«
»Behörden vertuschen wieder mal etwas? Dann bin ich natürlich gerne dabei. Was kann ich tun?«
»Brauche Zugriff auf geschützten Intranetbereich des Denver City College, ehemalige Studenten.«
»Hmmmmm, ok. Melde mich in einer Stunde wieder.«
Nach 45 Minuten erschien die nächste Meldung von spider auf dem Bildschirm.
»Login: tarantula, Passwort: spinnennetz.«
»Was bin ich schuldig?«
»Entlarve die Vertuscher und schreibe darüber in der Zeitung. Geht zu Lasten des Hauses. spider :-)«
Die Website des Denver City College wirkte elegant und professionell. Im Hauptmenü am oberen Seitenrand wählte Mike den Bereich Intranet. Auf der neuen Seite schreckte eine Warnung über die Folgen unerlaubten Zugriffs alle ab, die hier nichts zu suchen hatten. Darunter lud ein Formular Mitarbeiter und ehemalige Studenten ein, sich anzumelden. Als Benutzer gab er das Wort tarantula ein, als Passwort das Wort spinnennetz. Jetzt würde sich zeigen, ob spider geliefert hatte.
›Welcome to the Alumni Intranet‹, wurde er begrüßt. Wie erwartet funktionierte das Login, das spider für ihn eingerichtet hatte. Wie spider auf einem fremden Webserver so schnell ein Login für ihn einrichten konnte, wusste er nicht. Es war ihm eigentlich auch egal. Hauptsache, er konnte jetzt auf die Daten zugreifen.
Auf der Seite erschienen in verschiedenen Blogs Beiträge zu bevorstehenden Anlässen, die ehemalige Studenten in verschiedenen Städten der USA organisierten, um das Netzwerk zu pflegen. Er musste sich durch mehrere Menüs klicken, bis er in den Bereich ›Yearbooks Online‹ gelangte, mit vielen Jahreszahlen als Links. Er wusste, dass amerikanische Schulen und Universitäten diese beliebten Schülerverzeichnisse mit Bildern und weiteren Angaben jährlich herausgaben. Er suchte das Jahr 1985 und klickte darauf. Auf dem Bildschirm erschienen Bilder und Namen und er begann, jeden Eintrag genau zu studieren, in der Hoffnung, einen der Studenten darin zu erkennen.
Die Anzahl Bilder schien Mike unendlich. Sportanlässe, Theateraufführungen, Ausstellungen. Er vergrößerte jedes auf dem Bildschirm und untersuchte jedes Gesicht von Nahem. Den Mann, den er suchte, erkannte er auf keinem der Bilder. Als er endlich zu Portraitaufnahmen der Studenten und Studentinnen gelangte, die er nicht vergrößern musste, kam er schneller voran, und es dauerte nicht mehr lange, bis er fündig wurde. Das Bild zeigte den Mann, zwar fast 30 Jahre jünger und etwas magerer, mit langen Haaren, aber Mike war sich sicher. Es war das Gesicht der Leiche in der Aare. Unter dem Bild stand der Name des jungen Studenten: Jason ›Jay‹ Briggs. Er starrte lange auf das Portrait, das die Leiche in eine Person mit Namen und Gesicht verwandelte. Begeistert suchte Mike im Yearbook nach weiteren Hinweisen zu diesem Briggs. Er gelangte zu den Gruppenbildern von Studenten und untersuchte jedes genau, doch vergeblich. Briggs erschien kein weiteres Mal. Auch nicht auf den Bildern der Abschlussfeier. Mike fragte sich, ob Briggs vielleicht sein Studium nie abgeschlossen hatte und den goldenen Abschlussring nur zur Show trug.
Der Erfolg im Intranet des Colleges hatte seinen Appetit nach mehr angeregt, so drehte er das Licht im Zimmer an, holte sich eine weitere Flasche Eistee aus dem Kühlschrank und suchte weiter. Jetzt, da er den Namen des Mannes kannte, würde die Suche einfacher, hoffte er. Seine Suche in Google lieferte über 700.000 Einträge für Jason ›Jay‹ Briggs. Auch nachdem er die Suche einschränkte, fand er keine Einträge, die zum Mann passten, den er suchte. Beim Durchblättern der Suchergebnisse fiel ihm der Link zur Studentenzeitung des Colleges auf. Er klickte darauf. Von der Denver College World waren alle Exemplare zurück bis 1965 digitalisiert worden und im Web öffentlich zugänglich. Er freute sich ob seines Glücks, wusste aber, dass die Suche nach Hinweisen in den vielen alten Exemplaren lange dauern würde und die Chancen auf Erfolg nicht besonders gut waren. Trotzdem machte er sich an die Arbeit und begann damit, die Ausgaben von 1985 zu durchsuchen. Danach ging er jeweils um einen Jahrgang zurück.
In der Ferne läuteten Kirchenglocken vier Uhr. Mike rieb sich die Augen und massierte seinen Nacken mit beiden Händen in der Hoffnung, die Kopfschmerzen zu lindern, die inzwischen in seinem Kopf dröhnten. Seit Mitternacht hatte er keine weiteren Informationen zu Briggs mehr gefunden, und jetzt war er müde, hungrig und unzufrieden. Wenn Briggs ganze vier Jahre am College verbracht hatte, musste Mike Exemplare der Studentenzeitung zurück bis 1981 durchforsten. Aus dem Jahr 1982 fehlten ihm nur noch wenige Ausgaben. Er streckte seine Arme aus und schüttelte die Hände. Trotz der Kopfschmerzen klickte er sich weiter durch die digitalisierten Ausgaben.
In der vierten Ausgabe, die er durchforstete, fand er zwischen Inseraten versteckt einen Artikel, der von der Wiedereröffnung eines Fraternity-Hauses auf dem Collegegelände berichtete, das von Studenten in