Kraftvoll beten. Pete Greig

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stehen schwarz gekleidete chassidische Juden und schaukeln vor und zurück wie alternde Gruftis in einer stummen Disco. Schlecht gerollten Zigaretten gleich, klemmen Tausende von handgeschriebenen Gebeten zwischen den riesigen Steinen der Mauer, die einst Teil des Herodes-Tempels waren. Es lohnt sich, am Anfang eines Buches wie diesem innezuhalten und den unendlichen Gesang der menschlichen Sehnsucht wahrzunehmen: einen Chor aus Seufzern und Schreien und Glockengeläut, aus Flüstern auf Entbindungsstationen, himmlischen Oratorien und gesprühten Graffiti. Wie Rabbi Heschel es ausdrückt: „Das Gebet ist unsere bescheidene Antwort auf die unbegreifliche Überraschung des Lebens.“3

       Muttersprache

      Das englische Wort „prayer“ (Gebet) kommt von dem lateinischen „precarius“. Wir beten, weil das Leben prekär ist. Wir beten, weil das Leben wunderbar ist. Wir beten, weil wir merken, dass wir zwar vieles nicht können, die einfachsten Wörter wie „bitte“, „danke“, „wow!“ und „Hilfe!“ aber beherrschen. Ich betete, als ich unsere Kinder zum ersten Mal im Arm hielt. Ich betete, als mir die Arbeit über den Kopf stieg und ich merkte, dass ich sie nicht schaffe. Ich betete, als meine Frau bewusstlos über den Krankenhausflur geschoben wurde. Ich betete in der Nacht, als ich die Polarlichter sah.

      Der kanadische Psychologe David G. Benner beschreibt Gebet als „Muttersprache der Seele“ und stellt fest, dass „unsere natürliche Haltung einer aufmerksamen Offenheit für das Göttliche“ entspricht.4 Wir sehen diese Haltung bei vielen großen Männern und Frauen, die nicht unbedingt für ihre tiefe Religiosität bekannt sind. Abraham Lincoln z. B. gab zu: „Viele Male trieb mich die überwältigende Überzeugung auf die Knie, dass ich nirgendwo sonst hingehen konnte. Meine eigene Weisheit … schien für den Tag nicht auszureichen.“5

      Der Unternehmer Conrad Hilton, Gründer der gleichnamigen Hotelkette, widmet den letzten Teil seiner Autobiografie überraschenderweise dem Thema Beten. „In einem erfolgreichen Leben“, erklärt er, „ist Gebet die Nabe, die das Rad zusammenhält.“6

      In ihrem teils autobiografischen Roman One True Thing beschreibt Anna Quindlen die Qual, als Neunzehnjährige zusehen zu müssen, wie ihre Mutter Chemotherapie bekam – „Tropfen für Tropfen für Bitte-Gott-lass-es-wirken-Tropfen. Oh ja, ich betete in dieser Kabine“, schreibt sie. „Aber ich betete für mich, ohne Form, nur unausgesprochene Gefühle, nur ein Wort: Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte.“7

      Der Rockstar Dave Grohl gibt zu, verzweifelt gebetet zu haben, als sein Schlagzeuger Taylor Hawkins auf dem englischen V-Festival eine Überdosis nahm. „Im Gehen sprach ich laut mit Gott“, erinnert er sich an die nächtlichen Fußwege zurück zum Kensington’s Royal Garden Hotel, nachdem er seinen Freund besucht hatte, der im Krankenhaus im Koma lag. „Ich bin nicht religiös, aber ich wurde fast verrückt, ich hatte solche Angst, ich war verzweifelt und verwirrt.“8

      Elizabeth Gilbert beginnt ihre Bestseller-Memoiren Eat, Pray, Love mit diesen Worten: „Hallo, Gott. Wie geht’s? Ich bin Liz. Nett, dich kennenzulernen. … Ich war immer schon ein großer Fan deiner Werke. Ich habe noch nie direkt mit dir geredet.“ Und dann fängt sie an zu weinen: „Kannst du mir bitte helfen? Ich brauche unbedingt Hilfe. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Ihre Tränen versiegen und sie erlebt einen Frieden, „so ungewöhnlich, dass ich kaum wagte auszuatmen, weil ich Angst hatte, ihn zu verscheuchen. Ich weiß nicht, wann ich je solch eine Ruhe verspürt hätte. Dann hörte ich eine Stimme. Es war nicht die Stimme von Charlton Heston und sie sagte mir auch nicht, ich solle einen Baseballplatz bauen. Es war meine eigene Stimme, aber eine Stimme, wie ich sie noch nie gehört hatte.“9

      Meine Freundin Cathy an der Universität von Wichita war eine militante Atheistin. Als sie eines späten Abends ihr schlafendes Baby ansah, überwältigte sie der Wunsch, für dieses allergrößte Geschenk Danke zu sagen – irgendjemandem oder irgendetwas. Da sie ihr Staunen mit keinem Mann oder Freund teilen konnte, flüsterte Cathy verlegen ein paar Worte der Dankbarkeit in die Stille. Dabei schien sich die Atmosphäre zu verändern. Der Raum wurde erfüllt von Liebe – Welle für Welle; es war anders als alles, was sie je erlebt hatte. In dieser Nacht kniete Cathy neben ihrem schlafenden Baby nieder und wandte sich von ihrem leidenschaftlichen Atheismus ab. Noch heute, über dreißig Jahre später, ist sie eine Nachfolgerin Jesu.

      Ähnlich fühlte sich der irische Dichter Patrick Kavanagh vom unergründlichen Wunder des Lebens bewegt zu beten. Er beschreibt diesen Impuls in seinem Gedicht Canal Bank Walk als „das heftige Verlangen meiner Sinne“:

       O unworn world enrapture me, encapture me in a web

       Of fabulous grass and eternal voices by a beech.

       Feed the gaping need of my senses, give me ad lib

       To pray unselfconsciously with overflowing speech,

       For this soul needs to be honoured with a new dress woven

       From green and blue things and arguments that cannot be proven. 10

      (O unverbrauchte Welt verzücke mich,

      umhülle mich mit einem Netz

      aus wunderbarem Gras und den ewigen

      Stimmen bei einer Buche.

      Stille das heftige Verlangen meiner Sinne

      und lass mich aus dem Stehgreif,

      unbefangen und mit überströmenden Worten beten können.

      Denn diese Seele muss mit einem neuen Gewand

      geehrt werden, gewebt aus Grünem und Blauem

      und aus unbeweisbaren Argumenten.)

       Mensch sein heißt beten

      Von amerikanischen Präsidenten über irische Dichter, einem Rockstar in London bis zur alleinerziehenden Mutter in Wichita: Seit Anbeginn der Zeit ist Gebet „das unbeweisbare Argument“, das „heftige Verlangen“ jeder menschlichen Seele. Man vermutet, dass über 35000 Jahre alte Höhlenmalereien im indonesischen Maros und in Chauvet in Frankreich geistliche Anrufungen sind. Die Hügelruinen am Göbekli Tepe in der modernen Türkei gelten als Überreste eines Tempels, der 6000 Jahre älter ist als das neolithische Stonehenge in England, welches möglicherweise etwa 3000 Jahre vor Christus ein Ort des Gebets war.

      Und wie wird das in Zukunft sein? Ist Beten nur der abnehmende Schatten einer primitiven Morgendämmerung? Eine Umfrage nach der nächsten macht klar: nein.11 Dreihundert Jahre nach der Aufklärung ist die Welt eher mehr als weniger religiös.12 Ich wohne in England, das als eine der säkulareren Nationen in Westeuropa gilt, aber auch hier sagt ein Viertel derer, die sich als „nicht religiös“ bezeichnen, sie wären dennoch „einmal pro Monat spirituell aktiv, normalerweise, indem sie beten“.13 Der bedeutende Londoner Chirurg David Nott ist ein gutes Beispiel für diesen scheinbaren Widerspruch. Er arbeitet in drei britischen Kliniken, doch seinen Urlaub verbringt er bewusst in den gefährlichsten Kriegsgebieten der Welt. „Ich bin nicht religiös“, versicherte er Eddie Mair in einem Interview auf BBC Radio 4:

      Aber hin und wieder muss ich beten und ich bete zu Gott und bitte ihn, mir zu helfen, denn manchmal leide ich schrecklich. Nur ab und zu finde ich die richtige Frequenz, um mit ihm zu sprechen,

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