Das Geheimnis der Letzten. Fritz Binde

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Das Geheimnis der Letzten - Fritz Binde

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„Ihre Verhältnisse …? Ihre Verhältnisse, das sind Sie selber! Die Verhältnisse, das ist unsere Einbildung, unsere Kleingläubigkeit unsere Furcht! Der armselige Wahn, dass man ohne dies und jenes nicht leben könne! Der elende Aberglaube, dass unser Glück von äußeren Dingen komme! Unsere Verhältnisse, das sind unsere verrückten Bedürfnisse! Das ist das erbärmliche kleine Leben, das wir ächzend nachschleppen! Das ist das gezwungene Dasein, das unsere Seele ruiniert und traurig oder wild macht! Das ist die lumpige Angst, die Jesus meinte, als er sagte: ‚In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!‘“

      Der reiche Mann setzte sich.

      „Nun“, sagte er nach einer Weile, „ich kann Ihnen sagen: Sie werden mit diesen Anschauungen nicht durchs Leben kommen!“

      „Wenn ich nichts anderes wollte als durchs Leben kommen“, antwortete Franz, „dann ja! Aber ich will zum Leben kommen, und wenn ich dies Leben, das Sie meinen, gleich dabei verlöre. Denn das Leben, das Sie leben, ist gar kein Leben; das wissen Sie selbst: Das ist der Tod! Was verliert man am Toten? Das wahre Leben hat, wer sprechen kann: ‚Und nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr' Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben kein Gewinn! Das Reich muss uns doch bleiben!‘“

      „Das ist heilloser Wahn und schwärmerischer Fanatismus“, sagte der Schatten im Sessel.

      „Nein, das ist alleiniges Heil, alleinige Liebe, alleiniger Reichtum“, sagte Franz, der inzwischen aufgestanden war.

      „Wir sind nicht da zu behaglicher Seligkeit“, tönte es vom Sessel her. „Wir sollen auf dem schmalen Weg im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen.“

      „Ganz recht: unser tägliches, von Gott geschenktes Brot! Das soll jedem werden und wird jedem, der aus Gott lebt. Aber nicht noch drei Häuser dazu, ein Landgut und in einigen Monaten an die hunderttausend Mark im Wucher mit einem Stück Erde! Denn damit vermehrt man nur den Fluch der Sünde und bringt Schweiß auf sein eigenes und der Menschen Angesicht, den Gott nie gewollt.“

      „Nun, wenn Sie das Wucher nennen …! Ich sage Ihnen: Ohne Planen und Wagen mit Geld gäbe es überhaupt keine Kultur noch Fortschritt!“

      „Ich kenne nur einen Fortschritt: unser Fortschreiten in der Vollendung zu Gott. Schließlich mag auf diesem Wege auch die europäisch – amerikanische Kultur liegen; es ist möglich. Mir aber scheint sie eher ein Umweg, ja ein Irrweg zu sein als ein Weg zu Gott.“

      „Und draußen am Tore steht Ihr modernes Rad!“

      „Gut! Nur etwas bleibt sonderbar: Alle Welt hofft durch Kulturarbeit, durch Technik und Fortschritt Zeit und damit ein intensiveres Leben zu gewinnen, das dem wahren Leben immer näher komme. Und in Wahrheit verlieren die Menschen immer mehr Zeit und Kraft an Dinge, die zum wahren Leben gar nicht nötig sind, sondern vom wahren Leben wegführen und uns um das wahre Gedeihen und den Frieden unserer Seele betrügen. Man redet von sich steigerndem Wohlstand, und immer weniger Menschen fühlen sich recht wohl. Welch ein Unsinn ist das doch!“

      Der reiche Mann antwortete nicht gleich. „Sie mögen in manchem recht haben“, begann er nach einer Weile. „Man müsste also mehr Zeit gewinnen, den inneren Menschen zu pflegen. Das ist ja eigentlich ganz meine Ansicht.“

      „Ja, und bei wem dieser ,innere Mensch’ wirklich Christus heißt, der hat mehr als Zeit und kulturelle Randverzierung, der hat ewiges Leben gewonnen und hat damit aufgehört, das Verlangen nach äußerem Reichtum zu pflegen.“

      „Nun, und ich sage Ihnen“, schrie jetzt Winkels, „Armut ist noch lange keine Tugend!“

      „Nein, die äußere Armut ist so wenig eine Tugend wie die innere. Es gibt nur einen Reichtum: Gott in Christus! Wer den hat, kann äußerlich arm oder reich sein; aber letzteres wird er schwer werden, wenn er von jedem Überfluss den Mangel anderer stillt.“

      „Nun“, versuchte Winkels, „Sie können heute auf Erden anfangen, was Sie wollen, es wird zum Geschäft! Und selbst wenn Jesus heute auf die Erde käme … sehen Sie, wenn er Einfluss gewinnen, sich durchsetzen wollte, müsste er Besitz haben.“

      „Und ich sage Ihnen, er könnte niemals mehr Einfluss ausüben, als er bereits im Einssein mit dem Vater ausgeübt hat, und niemals mehr siegen, als er bereits durch seinen Geist gesiegt hat, und niemals mehr besitzen, als er bereits seit Ewigkeit besitzt. Und er ist immer auf Erden! Und wer in ihm lebt, ist immer im Himmel! Wer aber in ihm frei und reich werden will, der muss sich selbst und diese Welt erst einmal um Christi willen verlieren, um diese Welt und sich selbst in Christus furchtlos unverlierbar zu besitzen. Jedes andere Leben und jeder andere Besitz ist Wahn und Angst und Schein. Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon!“

      Der reiche Mann stand auf und wanderte lautlos über den Teppich. Das letzte Leuchten des Tages ging hinter ihm her und malte eben noch erkennbar seine gebeugte Gestalt. Müde blieb er stehen, und es schien, sein Haupt sinke immer noch tiefer. Aber auch Franz beugte sich allmählich in ein tiefes Schämen, als hätte er mit jedem Wort, das er gesprochen, gesündigt. Es wurde ganz still.

      „Ich bin nun so viel älter als sie und kenne doch das Leben“, begann der reiche Mann endlich wieder, aber seine Worte hoben sich jetzt so seltsam aus der Stille, so rein und unverhüllt, als entstiegen sie einem Bade – „und alles, was Sie da gesagt haben, habe ich einmal gewollt, glauben Sie es mir! Und ich wünsche es noch heute: mehr Himmel und mehr Liebe! – Aber das Leben hat mir die Hoffnung genommen. Ich habe keinen Glauben mehr, weder an solchen Himmel noch an diese Liebe! Sehen sie, ich hatte damals mein Geschäft begonnen mit dem Grundsatz, nicht mehr erwerben zu wollen, als mir für ein einfaches Leben für mich und die Meinen – denn damals hoffte ich noch auf Kinder – nötig schien. Aber man will sich auch nicht von der Brutalität der Welt besiegen und als ein Schwächling im Erwerbskampf vom Tische stoßen lassen. Man möchte doch nicht zurückbleiben und zu den Letzten gehören. Denn man weiß doch, die Träume von Licht und Reinheit bringen nichts ein. Also stellen Sie sich, wie Sie wollen: Sie müssen planen und erwerben! Es bleibt Ihnen einfach nichts anderes übrig! Aber nachher packt Sie die Freude am Erwerb. Sie greifen zu. Mit dem Erwerb steigern sich die Bedürfnisse, das ist wahr, und mit den Bedürfnissen die Sorgen um den Erwerb, das ist auch wahr. Und damit die Verpflichtungen zu weiterem, immer rücksichtsloserem Kampfe. Sie werden nüchtern, ganz nüchtern.

      Das heißt: Sie werden skrupellos und innerlich hart und rüde. Aber Ihr Ansehen in der Welt steigt, denn Sie haben es bereits zu etwas gebracht. Und Sie wollen sich doch nun auch weiter in der Welt sehen lassen. Also müssen Sie den errungenen Platz behaupten. Und Sie betrachten nun das ganze Leben vom Standpunkt eines tüchtigen Geschäftsmannes aus. – Zudem: Wir bekamen keine Kinder. Mir fehlte die Erwärmung durch die Liebe. Da wurde mir das Geschäft alles. Die Furcht vor Verarmung durch Verluste, vor Not im Alter nahm mir die letzte Sorglosigkeit, die letzte Freude. Da packt Sie der Kampf, nimmt Sie und trägt Sie fort in ein Dickicht, das keinen Ausweg hat. Da sitzt Ihre Seele drin, und es schlägt über ihr zusammen. Und dann sind Sie reich! Das heißt: Sie haben Geld, Häuser, Land, Luxus, Wohlleben, Ansehen. Und bezahlten dafür pünktlich mit der Gesundheit Ihres Leibes und Ihrer Seele. Und das Schlimmste ist, wenn sie dann einer vergangenen Sehnsucht Raum geben. Sie quälen sich mit der Unschuld der reinen, schlichten Himmelsdinge. Aber das ist alles! Die Fähigkeit, die Kraft zu einem reinen, schlichten Leben ist mittlerweile dahin. Sie wünschen ihn wieder, den Glauben an Reinheit und sch1ichtes Himmelsglück, aber Ihre ‚Nüchternheit‘ umbellt sie wie ein gemeiner Gassenhund: Es ist vergebens! – Ich muss hinaus! Ich muss planen, erwerben, gewinnen! Ich bin schon zu einsam, sehen Sie! Ich kann nicht mehr anders! Ich bin ein armer Mann! Das alles hier ringsumher, das lässt mich kalt! Das ist mir nichts! Das widert mich an! Ich bin einer von den armen Reichen! Ich kann wohl sagen: Je reicher ich geworden bin, desto ärmer bin ich geworden! Sehen Sie – das ist mein Leben!“

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