Die Rache des Waschbären. Christian Macharski
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„Nahtoderfahrungen“, verbesserte Kleinheinz ihn. „Das ist kein Quatsch. Ich hab’s doch selbst erlebt. Ich habe sogar meinen Lieblingsonkel getroffen im … Wo auch immer. Der ist seit über 20 Jahren tot.“
Will schüttelte den Kopf. „Es kann ja sein, dass man Hallunzinationen kriegt, wenn man unter Medikamente steht, aber, ehrlich gesagt: Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Das würde ja bedeuten, dass alle Menschen irgendswie weiterleben. Wie soll das denn organisatorisch gehen? Hier auf der Erde ist ja schon kaum Platz für alle. Das kann nicht. Wenn wir der letzte Vorhang fallen lassen, dann heißt es ‚Klappe zu, Affe tot‘. Ist meine Meinung.“
Bevor Kleinheinz widersprechen konnte, wurde die Haustür aufgeschlossen und die fröhliche Stimme von Marlene Hastenrath erfüllte das Haus: „Will! Ich bin wieder da. Was ist das denn da für ein fremdes Nummernschild vorm Haus?“ Als sie die Küche betrat, zuckte sie zusammen. Der Anblick von Kommissar Kleinheinz trieb ihr augenblicklich die Röte ins Gesicht. Allerdings weniger aus Verzückung als vielmehr aus Verlegenheit, denn ihre Sportbekleidung hatte schon bessere und erst recht schlankere Zeiten erlebt. Die abgewetzte Jogginghose mit dem ausgeleierten Bund stellte vor allem die Oberschenkelpartie in kein besonders gutes Licht. Wenigstens lenkte die knallbunte Ballonseide-Trainingsjacke ein wenig von den strammen Beinen ab, auch wenn der Reißverschluss sich nur zu etwa zwei Dritteln schließen ließ und die üppige Oberweite kaum zu bändigen verstand. Am unangenehmsten aber war Marlene das rote Stirnband mit der Werbeaufschrift der Weight Watchers. Während sie Kleinheinz unsicher zunickte, versuchte sie, es sich so beiläufig wie nur irgend möglich vom Kopf zu ziehen: „Oh. Hallo Herr Kleinheinz. Das ist aber … wieso haben Sie denn nicht vorher …?“
„Nix Herr Kleinheinz. Ich bin der Peter. Das hatten wir doch beim letzten Mal geklärt, schöne Frau.“ Er erhob sich schwungvoll und deutete scherzhaft einen galanten Handkuss an. Er ergriff ausgerechnet die Hand, in der Marlene das Schweißband fest umklammert hielt.
„Du kannst aber auch Lazarus für dem sagen“, palaverte Will vom Tisch aus, während er die Szene argwöhnisch beobachtete. „Der Peter erzählt nämlich gerade, dass der schon mal tot war.“
Kleinheinz seufzte laut. Marlene funkelte ihren Mann böse an und sagte: „Halt die Klappe, Will. Geh mal lieber in die Vorratskammer und hol der Käsekuchen, dem ich gestern gebacken habe. Das müssen wir feiern, dass der liebe Herr … ähm Peter uns hier so spontan besuchen kommt.“
2
Mittwoch, 7. September 2011, 17.09 Uhr
Richard Borowka fummelte zwei Zigaretten aus seinem zerknitterten Marlboro-Päckchen. Wortlos zündete er beide an und gab Fredi eine. Eine Zeit lang saßen die Freunde einfach nur nebeneinander und bliesen abwechselnd den Rauch in die milde Luft. Wie bei ihrem Abschied vor fast zwei Jahren saßen sie auf der alten Holzbank hinter der Kirche. Genau genommen auf der Rückenlehne. Die Füße standen auf der Sitzfläche. Von diesem Platz aus sah man direkt auf die von Efeu überwucherte Friedhofsmauer. Hinter dieser Mauer, zwischen den gewaltigen Trauerweiden, die wie die Beschützer der traurigen Seelen über das Gelände wachten, würde Fredi in zwei Tagen seinen Vater zu Grabe tragen. Borowka wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Früher, als er noch täglich mit Fredi um die Häuser gezogen war, hätte er einfach einen blöden Spruch gemacht und damit das Eis gebrochen. Aber jetzt? Seit Fredi in Berlin lebte, hatten sie zwar regelmäßig telefoniert, gemailt oder gesimst, aber ihr Verhältnis hatte sich verändert. Während Borowka immer noch mit den alten Kumpels vom Fußball und aus der Schulzeit herumhing, hatte Fredi sich einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Und natürlich war das Leben in Berlin aufregender, schneller, lebendiger. Jedenfalls interessanter als in Saffelen, konnte sich Borowka vorstellen. Selbst erlebt hatte er es nicht. Obwohl er es Fredi mehrfach versprochen hatte, ihn dort zu besuchen, hatte es irgendwie nie geklappt. Meist hatte es daran gelegen, dass seine Frau Rita keine Lust hatte. Und allein hätte er sich nie auf so eine große Reise begeben. Wahrscheinlich wäre er mit seinem Ford Capri aber auch nie so weit gekommen.
„Weißt du, dass ich seit vorletzte Woche bei uns im Betrieb Abteilungsleiter bin? Ich habe jetzt das ganze Ersatzteillager unter mir: drei Mitarbeiter“, sagte Fredi plötzlich.
„Cool“, antwortete Borowka, heilfroh, dass der Anfang gemacht war. „Da wär dein Vater bestimmt stolz auf dich gewesen.“
Fredi sah überrascht auf. „Meinst du wirklich?“
„Na klar“, Borowka nahm einen tiefen Lungenzug, „was meinst du, was deine Eltern hier auf dem Schützenfest mit dir rumgeprahlt haben?!“
„Mein Vater auch?“
„Jaa, mehr deine Mutter. Aber dein Vater hat im besoffenen Kopp auch mal gesagt, dass der das gut findet, dass du dein eigener Weg gehst.“
Fredi schnippte seine aufgerauchte Zigarette weg. Sie landete knapp neben dem Mülleimer. „Ich bin echt sauer auf meinen Alten. Der hat meine Mutter verboten, mir zu sagen, dass er so krank ist. Angeblich, damit ich mir keine Sorgen mache. Erst als der schon nicht mehr bei Bewusstsein war, hat meine Mutter mich angerufen. Ich konnte noch nicht mal mehr mit dem reden.“
Borowka zuckte hilflos mit den Schultern. „Keiner wusste was davon, wie krank dein Vater war. Aber ich denk, der hat sich noch mal mit euch unterhalten, kurz bevor der gestorben ist?“
„Ja schon. Da macht der noch einmal die Augen auf. Und dann erzählt der so ein Scheiß. Hier von wegen verliebt in Julia. Geht’s noch?“
Borowka musste unwillkürlich lachen, bemerkte aber sofort, dass das unpassend war. Er räusperte sich, als hätte er etwas im Hals. „Das ist natürlich wirklich krass. Wie der Spargel das in der Umkleidekabine erzählt hat, da bin ich fast hinten rübergekippt.“
„Ach, ist das schon rum im Dorf?“
„Fredi. Hallo?! Wir sind hier in Saffelen. Schon vergessen? Aber ist doch scheißegal. Männer reden schon mal Blödsinn.“
Plötzlich fuhr an der Straße ein Lieferwagen vorbei. Auf der Anhängerplane stand in verschnörkelter Schrift geschrieben: „Wurst Wimmers – das lustige Würstchen vom Lande“.
Borowka stockte der Atem. Er strich sich nervös durch sein blondgelocktes Haar, das er wie Fredi vorne kurz und hinten lang trug. Er spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildete. Bitte lieber Gott, mach, dass Fredi das nicht gesehen hat, hoffte er inständig. Seit Fredi wieder in Saffelen war, war das Gespräch noch nicht auf Martina gekommen, die Tochter des erfolgreichen Wurstfabrikanten Hans Wimmers. Und Borowka hatte Angst vor dem Moment, an dem es so weit sein würde. Martina war Fredis große Liebe gewesen. Doch in jenem verhängnisvollen Dezember vor fast zwei Jahren hatte sie sich endgültig von ihm getrennt. Das gebrochene Herz, das Fredi davontrug, hatte entscheidend dazu beigetragen, dass er Saffelen den Rücken kehrte. Zwar hatte Borowka das Gefühl, dass sein Freund sich in der Zwischenzeit emotional von Martina gelöst hatte, aber Borowka hatte Informationen über sie, von denen er sicher war, dass sie Fredi aus der Bahn werfen würden. Deshalb wollte er sie so lange wie möglich vor ihm geheim halten – zumindest bis nach der Beerdigung. Viel länger dürfte so etwas in Saffelen ohnehin nicht zu schaffen sein. Es war wahrscheinlich nur deshalb bis jetzt gelungen, weil allen Dorfbewohnern bewusst war, welche verheerende Wirkung diese Nachricht auf Fredis Gemütszustand haben konnte. Der Lieferwagen war fast außer Sichtweite, als er plötzlich heftig abbremste, weil eine alte Frau mit Rollator unvermittelt die Straßenseite wechseln wollte. Zu allem Überfluss hupte der wütende Fahrer auch