Die Rache des Waschbären. Christian Macharski
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Читать онлайн книгу Die Rache des Waschbären - Christian Macharski страница 8
Will nickte schwach und fragte mit kaum überhörbarer Verzweiflung in der Stimme: „Und ihr? Was macht ihr?“
Michael zeigte zum Auto. „Wir müssen mit Kevin-Marcel und Justin-Dustin nach Geilenkirchen zum Kinderpsychologen. Wegen der Untersuchung. Heute ist doch der einzige Termin, den wir bekommen konnten.“
Langsam kehrte bei Will die Erinnerung zurück. Die Sache mit dem Kinderpsychologen hatte in den letzten Wochen für viele kontroverse Diskussionen im Hause Hastenrath gesorgt. Während Michael, Sabine und Marlene der Meinung waren, dass Kevin-Marcel und Justin-Dustin möglicherweise an einem Aufmerksamkeitsdefizitproblem leiden würden, war Will der Überzeugung, dass sie einfach nur etwas lebhaft und vor allem sehr aufgeweckt seien. In dem Alter müsse auch schon mal was kaputtgehen, fand Will. Auch wenn er natürlich nicht alle Aktionen seiner Enkel guthieß. So zum Beispiel die, als sie vor einiger Zeit Attila eine Kordel mit zehn leeren Coladosen am Schwanz festgeknotet hatten. Am Ende musste der Tierarzt den tobenden Hofhund mit einer Betäubungspistole außer Gefecht setzen, bevor man die Kordel wieder entfernen konnte. Aber so sind Kinder halt, argumentierte Will dann immer. Meist stand er mit seiner Meinung jedoch auf verlorenem Posten. Und so verzichtete er diesmal darauf, die Diskussion erneut anzustoßen. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass gerade nicht der richtige Moment war. Und so sagte er: „Na klar. Elternabend. Natürlich habe ich dadran gedacht.“
Marlene ging einen Schritt auf ihn zu und zischte mit beschwörender Stimme: „Und wehe, es gibt wieder Ärger wegen irgendwas. Setz dich einfach da hin, hör zu und halt vor allen Dingen die Klappe. Nicht wie sonst immer.“
Will nickte, während Marlene sich umdrehte und zum Wagen ging. Michael blieb noch einen Moment stehen und kramte in seiner Jackentasche. „Mach dir nix draus, Will“, sagte er. „Frauen reagieren schon mal ein bisschen empfindlich. Hier, ich hab was für dich.“ Er zog ein Plastikdöschen mit Visitenkarten hervor und hielt es Will hin. Auf dem Deckel klebte ein Musterexemplar mit der Aufschrift: „Hastenraths Will – Landwirt, Ortsvorsteher und Hobbykriminologe“. Darunter stand eine Handynummer. Seine Handynummer. Denn seit Kurzem war er stolzer Besitzer seines ersten eigenen Handys, das Michael ihm besorgt hatte. Will nahm die Visitenkarten und strahlte voller Stolz. „Danke, mein Lieblingsschwiegersohn.“
Will betrat mit zehn Minuten Verspätung das Klassenzimmer der 4a. Alle anderen sahen sich um, als er die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen ließ. Das Quietschen seiner Gummistiefel auf dem Linoleumboden hatte ihn verraten. Während er sich in der hinteren Reihe einen Platz suchte, wendeten sich alle Köpfe wieder nach vorne und beobachten Schulrektor Peter Haselheim, der leise fluchend damit beschäftigt war, den Overheadprojektor auf dem Lehrerpult in Gang zu setzen. So ganz wollte es ihm offensichtlich nicht gelingen, denn an seinem Hals hatten sich bereits hektische Flecken gebildet. Ohne aufzusehen, sagte er: „Ah, unser Ortsvorsteher, der Herr Hastenrath, gibt sich persönlich die Ehre. Das freut mich.“ Er richtete sich auf und lächelte Will an. An die anderen gewandt, ergänzte er: „Das ist der Mann, der immer mit vollem Engagement auf politischer Ebene für den Erhalt unserer kleinen Grundschule kämpft. Bis jetzt mit großem Erfolg.“ Im Raum setzte ein anerkennendes Murmeln ein, vereinzelt wurde sogar auf die Tischplatten geklopft. Will sah sich um und nickte den Leuten, die sich umgedreht hatten, staatsmännisch zu. Erstaunt stellte er fest, dass er fast niemanden kannte. Lediglich die Tochter seines Schützenkameraden Schlömer Karl-Heinz konnte er zuordnen. Beim Rest ging er davon aus, dass es sich um junge Ehepaare aus dem Neubaugebiet handelte, deren Anzahl ständig wuchs – sehr zum Ärger der alteingesessenen Einwohner, die die alte Infrastruktur bedroht sahen. Dass es sich um Zugezogene handeln musste, erkannte Will schon daran, dass meist beide Elternteile erschienen waren. Das wäre früher undenkbar gewesen. Elternabende waren seit jeher Frauensache gewesen. Aber das begann schon sich zu ändern, als der junge Peter Haselheim im Jahr 2000 die Rektorschaft übernommen hatte. Damals hatte er den strengen, aber hoch angesehenen Direktor Franz-Josef Offermanns abgelöst, der aus Altersgründen in den Ruhestand verabschiedet worden war. Vor einigen Jahren war er verstorben. Offermanns war bereits 1961 an die damalige Volksschule Saffelen gekommen, zunächst als Lehrer für Mathematik, Deutsch und Geschichte, kurze Zeit später zusätzlich als Rektor. Auch Will war noch unter ihm zur Schule gegangen. Franz-Josef Offermanns galt zeitlebens als glühender Verfechter einer sehr autoritären Erziehung. Will konnte sich daran erinnern, dass er etliche Schulstunden von der Zimmerecke aus im Stehen verfolgen musste – mit einer Eselsmütze aus Pappe auf dem Kopf. Auf diese Weise bekam er aber zumindest mehr vom Stoff mit als die vielen Male, die er draußen vor der Tür verbringen musste. Natürlich mit heruntergedrückter Türklinke, damit er nicht weggehen konnte. Das war aber alles immer noch besser gewesen, als die körperlichen Züchtigungen, die eigentlich Offermanns’ Spezialgebiet waren. Nicht umsonst trug er stets einen schweren Ledergürtel. Schläge gab es aber nicht etwa, wenn die Hausaufgaben nicht gemacht waren, denn das traute sich ohnehin niemand. Schläge gab es in der Regel schon, wenn die Schönschrift nicht schön genug war. Na ja, so gesehen, haben die Schüler von heute es schon besser, dachte Will. Aber geschadet hat es mir ja auch nicht. Aus mir ist ja euch ein erfolgreicher Landwirt und charismatischer Ortsvorsteher geworden.
Will wurde aus seinen Gedanken an die gute, alte Zeit gerissen, als Peter Haselheim lautstark vor der Technik kapitulierte. „Ach, so ein Mist. Diese alten Overheadprojektoren. Dass wir die überhaupt noch einsetzen im Computerzeitalter. Darüber sollten wir auf jeden Fall noch mal mit dem Förderverein sprechen.“ Zustimmendes Gemurmel im Raum. Eine Frau mit halblangem, brünettem Haar, die allein in der ersten Reihe saß, sprang auf und trat neben Haselheim. „Ich kann gerne versuchen, Ihnen zu helfen“, sagte sie. Will schätzte die Frau auf Mitte, Ende dreißig. Sie war hübsch, wenn auch nicht unbedingt im klassischen Sinne. Vielleicht ein paar Kilo zu viel, aber dennoch gut verteilt auf einem wohlproportionierten Körper. Ihre Kleidung war sportlich-modern und ihre Ausstrahlung enorm. Mit ihrem offenen Lächeln nahm sie auf der Stelle die Leute im Klassenzimmer für sich ein. Mit anderen Worten: Sie gefiel Will nicht. Außerdem hatte er sie noch nie in Saffelen gesehen. Und er sollte recht behalten. Haselheim nutzte die Gelegenheit, die Dame vorzustellen. „Oh, ach ja. Danke. Ja, liebe Eltern“, begann er, während die junge Frau sich an dem Overheadprojektor zu schaffen machte, „das ist Frau Bettina Hebbel, unsere neue Kollegin. Sie wird ab nächster Woche die 4a übernehmen und damit die Nachfolgerin von Herrn Rehbein, der sich ja, wie die meisten wissen dürften, bereits seit einigen Monaten in … ja, wie soll ich sagen, in … sich also erfolgreich in den Burn-out verabschiedet hat.“ Haselheim biss sich auf die Lippe. Ihm wurde gerade bewusst, wie unglücklich er sich ausgedrückt hatte. Zum Glück rettete ihn das grelle Licht, das plötzlich der Overheadprojektor auf die Tafel warf. „Voilá! Er läuft wieder“, sagte Frau Hebbel, während sie sich zufrieden die Hände rieb.
„Ja, was für ein hervorragender Einstand“, scherzte Haselheim mit spürbarer Erleichterung darüber, dass sein kleiner Fauxpas dadurch in den Hintergrund geriet.
Will hatte zwar mitbekommen, dass Herr Rehbein offenbar schon länger nicht mehr unterrichtete, weil er gerne mal in Kur war, aber dass er überhaupt nicht mehr wiederkommen würde, überraschte ihn jetzt doch. Dabei war Will so froh gewesen, dass Herr Rehbein der Lehrer seines Enkelkindes Justin-Dustin gewesen war, weil er als Letzter an der Saffelener Grundschule noch zu der goldenen Lehrergeneration gehört hatte. Jener Generation, für die Strenge und Disziplin keine Fremdwörter waren. Man musste es ja nicht übertreiben wie Herr Offermanns, aber zu viel Kuschelpädagogik tat den Kindern nach Wills Meinung auch nicht gut. Das alles führte doch nur zur Verweichlichung der Jugend. Will konnte diesem ganzen Psychogequatsche nicht viel abgewinnen. Es begann sogar, ihn regelrecht zu nerven. Deshalb meldete er sich zu Wort.
Haselheim legte gerade die erste Folie auf, als er aus dem Augenwinkel das Handzeichen sah. „Ja bitte?“, sagte er und wandte sich gleichzeitig an seine neue Kollegin, die assistierend neben ihm stand. „Das