Die Rache des Waschbären. Christian Macharski

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Die Rache des Waschbären - Christian Macharski

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seine Welt. Hier, wo bedeutungsschwangere Worte gefragt waren, wo Politik und Diplomatie die Herzen der Menschen öffnen konnten, da fühlte er sich zu Hause, da war er in seinem Element. Mit großer Geste steckte er eine Hand in die Tasche seines verwitterten grünen Parkas, so wie er das mal bei Gerhard Schröder gesehen hatte. Sekundenlang ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Will beherrschte die hohe Kunst der Stehgreifrede wie kaum ein anderer in Saffelen. Diesmal wollte er nichts dem Zufall überlassen. Er war bereit, seine gefährlichste Waffe einzusetzen. Nämlich den berüchtigten Hastenrathschen Stufenplan, mit dem er noch in jeder Dorfversammlung eindrucksvoll seine Ziele durchgesetzt hatte. Die alteingesessenen Saffelener klebten dabei regelmäßig an seinen Lippen. Wieso sollte es hier anders sein? Seine Ansprache begann Will traditionell mit Stufe 1, dem Lob: „Mein lieber Herr Haselheim, oder – Peter – wie ich ja für dich sagen darf. Zunächst einmal muss ich dir sagen, dass dir dieser unmoderne Pullunder sehr gut steht und dass ich kaum jemanden kenne, der mit eine herausgewachsene Frisur noch so passabel aussieht wie du, aber …“, Stufe 2 – Scheinangriff, „das kann natürlich nicht über die unselige Schulfest-Affäre hinwegtäuschen, in die du verwickelt bist. Ich gehe zwar davon aus, dass der Untersuchungsausschuss, dem ich zusammen mit Schlömer Karl-Heinz leite, zu dem Ergebnis kommt, dass die zehn Euro wohl einfach bloß falsch herausgegeben worden waren an der Kuchentheke. Dennoch …“, Stufe 3 – Untergrabung, „hat dadrunter natürlich deine Führungsqualität und vielleicht auch ein wenig deine Intrigität, oder wie das heißt, gelitten. Aber …“, Stufe 4 – angetäuschter Schulterschluss, „für dich in dieser schweren Zeit zu unterstützen, sind Freunde wie ich ja da. Und deshalb …“, Stufe 5 – Todesstoß, „denke ich, sollten wir alle erst mal in Ruhe dadrüber nachdenken, ob es richtig ist, einen der letzten noch verbliebenen brauchbaren Lehrer durch einen vorlauten, unreifen Backfisch – das richtet sich jetzt nicht persönlich gegen Sie, Frau Hempel – zu ersetzen. Deshalb ….“ Als Will gerade zu Stufe 6, dem fulminanten Schlussplädoyer, ansetzen wollte, schien irgendetwas schiefzulaufen. Statt langsam anschwellenden Applauses erhob sich nämlich plötzlich Unruhe unter den Anwesenden. Wills Rede wurde von lauten Buh-Rufen und grellen Pfiffen unterbrochen und aus einer Ecke flog ihm sogar ein Radiergummi ins Gesicht. Offenbar hatte er die Zugezogenen rhetorisch nicht ganz auf seine Seite ziehen können – warum auch immer. Peter Haselheim ruderte hilflos mit den Armen und versuchte, die Elternschaft zu beruhigen. Doch seine dünne Stimme verlor sich in dem tumultartigen Lärm, aus dem man Satzfetzen wie „reaktionärer Sack“ oder „Halt’s Maul“ heraushörte. Haselheim musste sogar einen Zwei-Meter-Mann davon abhalten, auf Will loszugehen. Doch dann sorgte ein energisches und lautes „Jetzt reicht’s aber!“ schlagartig für Ruhe. Es war allerdings nicht Haselheim, der diesen Satz rief, sondern Frau Hebbel. Alle sahen erschrocken nach vorne. Die junge Frau setzte ein freundliches Lächeln auf und sagte mit wieder deutlich sanfterer Stimme: „Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch alle wieder beruhigen. Ich kann verstehen, dass schon mal Emotionen hochkochen, wenn Veränderungen anstehen. Aber ich bin ja auch deshalb heute Abend hier, um Vorbehalte auszuräumen und Ihnen mein Konzept vorzustellen. Und ich finde, in einer Demokratie ist es wichtig, jeden zu Wort kommen zu lassen.“ Dann wandte sie sich an Will, der immer noch stand und eine trotzige Miene aufgesetzt hatte. „Herr Hastenrath, ich kann Sie nur zu gut verstehen. Sie sind hier groß geworden, Sie sind hier zur Schule gegangen, Sie sind ein echter Einheimischer, dem bestimmte Werte wichtig sind.“ Will nickte.

      „Aber“, fuhr sie fort, „der Lauf der Dinge ändert sich manchmal. Was gestern gut war, kann man heute vielleicht noch besser machen.“

      Will verschränkte die Arme vor der Brust: „Und was, bitte schön, ist verkehrt dadran, mal mit ein stabiles Holzlineal für Ruhe zu sorgen? Einmal hat der Herr Offermanns mir sogar eins auf dem Handrücken drauf kaputtgeschlagen. Aber danach habe ich nie mehr die Hausaufgaben vergessen.“

      „Und was hat Ihre Mutter dazu gesagt?“

      „Die hat sich natürlich dadrüber aufgeregt.“

      „Sehen Sie.“

      „Wieso? Die hat sich dadrüber aufgeregt, dass die wegen mir ein neues Lineal kaufen musste.“

      Frau Hebbel seufzte. „Na ja, sagen wir mal so, es gibt verschiedene Methoden. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich hervorragend ausgebildet bin und auch schon viele Jahre in Norddeutschland unterrichtet habe.“

      Will zog die Augenbrauen hoch, wollte sich aber noch nicht geschlagen geben. „Jaa, Frau Hempel. Aber Norddeutschland ist nicht Westdeutschland. Sie können vielleicht gut Rollmöpse zusammenrollen, aber das heißt nicht, dass Sie was von der Erziehung verstehen, die hier nötig ist. Hier in Saffelen herrscht noch das Gesetz der Prärie … also im übertragenen Sinne. Und dadrauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten.“

      Der Zwei-Meter-Mann mit dem breiten Kreuz, den Haselheim zuvor noch mühsam hatte zurückhalten können, erhob sich erneut und sah Will tief in die Augen. In seinen Pupillen spiegelten sich Hass und Verachtung. Er ballte die Faust und rief drohend: „Das Gesetz der Prärie kannst du haben. Wir gehen jetzt vor die Tür und ich haue dir eins auf die Fresse.“ Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

      Will schluckte. Er wägte die Situation ab und kam zu dem Schluss, dass es diplomatische Sackgassen gab, aus denen man sich als guter Staatsmann vorläufig zurückziehen sollte. Nicht allerdings, ohne ein eindrucksvolles Schlusswort zu hinterlassen. Er überlegte kurz, wie es lauten könnte, und sagte dann „Pffft …“, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und mit erhobenem Haupt das Klassenzimmer verließ.

      Nachdem er auf den Bürgersteig getreten war, atmete er mehrmals kräftig durch und sog in tiefen Zügen die frische Luft ein, die durch ein kurzes Gewitter am Nachmittag angenehm diesig war. Nachdenklich überquerte er die Straße, als auf dem Weg zu seinem Wagen plötzlich sein neues Handy klingelte. Umständlich fischte er es aus der Parkatasche und nahm das Gespräch entgegen. Zunächst drangen nur laute Kneipengeräusche an sein Ohr. Doch dann brüllte seine Frau am anderen Ende gegen den Lärm an. „Hallo Will, ich hoffe, ich stör nicht! Ich wollte nur schnell fragen, wie der Elternabend läuft.“ Will überlegte kurz und antwortete: „Ich würde mal sagen: Wie immer.“

      Donnerstag, 8. September 2011, 23.14 Uhr

      „Benjamin Blümchen“, rief Borowka. Fredi zeigte ihm einen Vogel. „Nee, komm. Nur vernünftige Helden. Nicht so Kindergartenfiguren.“ Borowka verzog enttäuscht das Gesicht und überlegte weiter. Die beiden Kumpel saßen sich im Bistro der Diskothek „Haus Waldesruh“ gegenüber. Die Großraumdisko war unter diesem Namen aber kaum bekannt. Überregionale Anerkennung hatte sie sich unter der Bezeichnung „Himmerich“ erworben, wie eigentlich der kleine Ort hieß, in dem das Tanzlokal beheimatet war. Früher als „Bauerndisko“ für seinen „Ball der einsamen Herzen“ verspottet, war das Haus heutzutage jedes Wochenende der Anlaufpunkt für Tausende von Menschen, die zu allen möglichen Stilrichtungen tanzen wollten. Fredi und Borowka hatten sich von ihren Fußballfreunden abgesetzt, mit denen sie unterwegs waren, und sich ins etwas ruhigere Bistro im vorderen Bereich zurückgezogen. Borowka hatte Fredi überredet, mitzukommen, damit er am Vorabend der Beerdigung seines Vaters nicht zu Hause Trübsal blasen musste. Die beiden spielten eines ihrer Lieblingsspiele, mit dem sie schon zu Schulzeiten Stunden hatten zubringen können. Es gab eine Aufgabenstellung, für die es mehrere Lösungen gab. Abwechselnd musste jeder antworten, und wem als Erstes nichts mehr einfiel, der hatte verloren und musste die nächste Runde Asbach-Cola bezahlen, die in Kindertagen noch aus Capri-Sonne bestanden hatte. Die aktuelle Aufgabe lautete, Comic-Helden zu nennen, deren Vor- und Nachname mit demselben Buchstaben beginnt. Bereits seit einer Viertelstunde lieferten sie sich einen spannenden Schlagabtausch. „Ah, ich weiß noch einen“, sagte Borowka. „Benni Bärenstark.“

      „Kenn ich nicht.“

      „Ja klar

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