Die Innenpolitik der Römischen Republik 264-133 v.Chr.. Boris Dreyer
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Polybios’ 6. Buch
Die römische Verfassung und ihre Institutionen waren einem Wandel unterworfen, zumal die kollektive Erinnerung an die nicht aufgezeichneten mores maiorum zwar verpflichtend, aber keineswegs unumstritten war, besonders je mehr man sich der Mitte des zweiten Jahrhunderts nähert. Für die Darstellung historischer Prozesse sind aber Kompromisse zu machen, wenn eine „Momentaufnahme“ der Verdeutlichung dienlich ist. Es gibt hierfür auch ein antikes Vorbild: den Historiker Polybios, der die römische Verfassung zum Zeitpunkt der größten Bedrohung durch Hannibal im 6. Buch seines großen Geschichtswerkes beleuchten wollte. Wie er konzentrieren wir uns vor allem auf das Volk, die oberen Magistrate mit Imperiumsgewalt und den Senat, und ihr tagtägliches politisches Zusammenspiel.
Institutionen und Gesellschaft
Dem schematischen Gerüst der Institutionen (vergleiche Schema S. 18) steht aber darüber hinaus die soziale Realität einer streng aristokratisch-hierarchisch-strukturierten Gesellschaft gegenüber. Diese reichte in die politische Sphäre hinein und verlieh damit bei innerem Konsens (etwa durch die Verpflichtung auf die Einhaltung der mores maiorum) dem Staat insgesamt Beharrungs- und Kohäsionskraft. Diese wäre mit dem institutionellen Gefüge allein kaum hinreichend zu erklären gewesen.
c) Polybios’ Verfassungsanalyse und Ciceros Staatsschriften
Mischverfassungstheorie
Zur Bewertung der Leistungen und Versäumnisse im erhaltenen Teil der Verfassungsanalyse des Polybios ist C. Nicolet (1974) heranzuziehen. Polybios ordnete um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts die römische Verfassung im Spektrum der möglichen und bekannten Verfassungen unter den Mischverfassungstypus ein. Darüber hinaus hat Polybios zufolge die spezifische Beschaffenheit ihrer Verfassung es den Römern ermöglicht, die größten Krisen – auch diejenige des Hannibalkrieges – zu überstehen und in nicht ganz 53 Jahren eine (auf die antike Oikumene, die Mittelmeerwelt, bezogene) Weltherrschaft zu erringen. In diesem Verfassungsgefüge nämlich balancierten sich nach Polybios das demokratische Element, durch das Volk repräsentiert, das königliche Element durch die Konsuln und das aristokratische Element aufgrund des Senates im Rahmen einer Mischverfassung ideal im Sinne eines dauerhaften Bestandes aus, weil die angesprochenen Elemente – im Unterschied zu anderen Gemeinden – natürlich über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte zusammengewachsen seien.
Vorteil der Verfassung Roms
Die Verfassung Roms ist nach Polybios daher im Vorteil gewesen, wenn man sie mit der Verfassung Athens und Thebens, die zu sehr von der Qualität der Politiker abhängig gewesen sei, oder mit Platons Staat, der eine reine Kopfgeburt gewesen sei, oder mit Kretas Verfassungen vergleiche, die korrupt gewesen seien. Sogar die Verfassung Spartas stehe zurück, die auch eine exzellente Mischverfassung gewesen sei, aber eben künstlich (durch den sagenhaften Lykurg) geschaffen worden und allein zur Sicherung der Vorherrschaft auf der Peloponnes tauglich gewesen sei. Allein die Verfassung Karthagos, auch eine Mischverfassung wie diejenige Spartas und Roms, war nach Polybios der römischen ebenbürtig. Sie habe allerdings ihren Zenit bereits zum Zeitpunkt der Punischen Kriege überschritten, als die römische ihrem Höhepunkt zustrebte. Außerdem sei – so Polybios – das römische Wesen durchaus beständiger als dasjenige der punischen Gegner.
Seit Herodot (ca. 425 v. Chr.) machten sich die Griechen – die Sophisten, der sogenannte Pseudo-Xenophon, Platon, Aristoteles, überhaupt die Philosophenschule des Peripatos (Theophrast, Dikaiarchos von Messene) – über die bestmöglichen Verfassungen Gedanken und haben Theorien über die jeweilige „Güteklasse“ und das Werden und Vergehen von Verfassungen entwickelt. Die Mischverfassung galt als Ideal und wurde auf die verschiedensten Staatswesen angewandt.
In dieser Tradition stand Polybios, wenn er für griechische Leser die Mischverfassungstheorie auf den römischen Fall applizierte. Der Historiker hatte nach seiner Deportation im Jahre 168 v. Chr. die römischen Institutionen unter anderem durch seine Kontakte (im Scipionenkreis) und besonders aber durch die Werke Catos (vielleicht auch durch persönliche Gespräche mit ihm) kennen gelernt. Die soziale Realität wird am Schluss des erhaltenen Teils seiner Ausführungen durch die Bezüge auf die römischen Bestattungsriten angesprochen.
Ciceros de rep. und de leg.
Die für die römische Kultur und das römische Geistesleben so fruchtbare Atmosphäre im Scipionenkreise bildete auch die Kulisse für Ciceros Dialogschrift über den Staat (res publica), die zusammen mit der zweiten Staatsschrift (de legibus) am Ende der 50er Jahre vor dem Hintergrund der römischen Verfassungskrise abgefasst wurde.
Auch Cicero hielt die römische Verfassung für eine Mischverfassung, die es – mit dem Rückbezug auf die „richtig verstandenen“ mores maiorum – zu reformieren gelte, als sie aufgrund der Bedrohung der Republik durch das Übergewicht der Potentaten Pompeius und Caesar auseinander zu zerfallen drohte. Seine Lösung war die Sicherung der Dominanz des Senats unter anderem durch die Unterordnung oder Schwächung der ordentlichen und außerordentlichen Magistrate, also kein System von „cheques und balances“ wie bei Polybios. Ciceros Reformvorschlag ist ein umfassender und durchaus plausibler Versuch einer Reform des krankenden Staatswesens (Inga Meyer 2006).
Römische Verfassung demokratisch? Nein!
In jüngster Zeit hat es eine heftige Diskussion gegeben, wie die römische Verfassung nach heutigen Maßstäben einzuschätzen sei, obwohl doch ihr aristokratischer Grundcharakterzug klar schien. Fergus Millar forderte (mit einigen anderen Forschern) die traditionelle Sichtweise heraus, indem er behauptete, dass die römische Verfassung demokratisch sei. Diese These wird bis in jüngste Zeit heftig und in der Regel abschlägig diskutiert (Hölkeskamp 2004), obwohl der Urheber der Diskussion längst schon nicht mehr diese provokative These aufrechterhält. In der Tat ist die römische Gesellschaft und Verfassung aristokratisch. Das Institutionsgefüge verfügte allerdings auch über demokratische Potentiale, die je nach innenpolitischer Lage und außenpolitischer Situation mehr oder weniger deutlich hervortreten konnten.
Schema: Die römische „Verfassung“
d) Das Volk
„Rechte“ des Volkes/ comitia/contiones
Das Volk verfügte über starke Rechte: die Beamtenwahl, die Gesetzgebung, die Entscheidung über Krieg und Frieden. Dennoch war das politische System nicht demokratisch. Es gab vor allem kein Initiativrecht in der Volksversammlung.
In den comitia war es den Bürgern nur erlaubt zu „wählen“, geheim ohnehin erst ab 139 v. Chr. (leges tabellariae); in den contiones wurde das Volk informiert, dort durfte man nur mit Erlaubnis der einberufenden Magistrate reden. Einberufende Magistrate waren in der Regel die Praetoren und Konsuln für alle Versammlungen. Wichtige Ausnahme war das concilium plebis, in dem die Volkstribunen die Leitung hatten. Diese Magistrate bestimmten den Verlauf der Versammlung und die Tagesordnung. Das Volk hatte nur mit einem Votum zuzustimmen oder abzulehnen (suffragium).
e) Die obersten Magistrate
imperium/auspicium