Krähenflüstern. Regine Kölpin
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Читать онлайн книгу Krähenflüstern - Regine Kölpin страница 6
Bevor Thiemo antworten konnte, raste ihr Sohn um die Ecke. »Ich geh nicht in mein Bett, ich schlaf bei Mama!« Dabei sah er Thiemo herausfordernd an. Der nickte wortlos und nahm von Linda den Teller Suppe entgegen. Er würde also wieder auf dem Sofa schlafen.
Als Laurin endlich im Bett lag, nahm sich Linda auch ein Bier und setzte sich zu Thiemo auf die Couch. »Was war denn los, dass dein Tag so schrecklich war?«, fragte sie, während sie den Flaschenöffner ansetzte. Der Deckel löste sich mit einem Zischen.
»Gib mir auch noch ein Bier!«, lenkte Thiemo ab. Er nahm die Fernbedienung und begann sich durch die Programme zu zappen.
»Nimm von mir was, ich trink es sowieso nicht ganz.« Linda reichte ihm die Flasche. Die Melodie von Hinter Gittern ergoss sich in den Raum.
»Kannst du das nicht ausschalten? Ich habe dich nämlich was gefragt«, sagte Linda.
Thiemo hielt die Fernbedienung zwischen beiden Händen, als fürchte er, Linda könnte sie ihm entreißen, wenn er sie auch nur für eine Zehntelsekunde losließ.
»Hallo? Erde an Thiemo!«
Er stellte den Fernseher etwas leiser.
»Ist nichts Gravierendes«, sagte er leichthin. »Nur ärgerlich.«
»Ich weiß nicht. So klang das vorhin nicht.« Linda nahm einen Schluck Bier.
Thiemo wischte ihr vorsichtig mit der Seite des Zeigefingers den Schaum ab. »Ein anonymer Anruf. Bei uns soll eine ältere Dame getötet worden sein.«
»Oh.« Linda setzte sich auf. »Ist denn an der Anschuldigung was dran?«
»Ach was. Aber es ist einfach … blöd.« Thiemo wollte den Film wieder lauter stellen, aber Linda legte ihre Hand auf seine.
»Das könnte doch … Ich meine, du bist verantwortlich, oder?«
Thiemo schüttelte den Kopf. »Es stimmt nicht, überhaupt nicht und kann auch nicht sein.«
Erleichtert atmete Linda aus. Jetzt griff sie nach der Fernbedienung und Hinter Gittern verschwand hinter der schwarzen Blende. Linda schnappte mit den Lippen nach Thiemos Zeigefinger und er spürte ihre Zunge daran. Die Hände wanderten zu seiner Hose und krochen Finger für Finger in den Bund. Mit der anderen Hand löste Linda Knopf und Reißverschluss.
1968
Der Bus surrt durch das flache Land. Als der Junge erwacht, sieht er ein dunkelrotes Backsteingebäude mit weißen Fenstern. Im umzäunten Garten steht ein Spielgerüst.
Er muss Hausschuhe anziehen und wird in einen großen Speisesaal geführt. Es ist, trotz der vielen Kinder hier, äußerst leise. Er wird verstohlen gemustert. Seine Gruppe hat die Nummer zwei. Dort muss er auf einem harten Holzstuhl sitzen. Es sind auch ein paar Ältere dabei. »Die helfen mit und sorgen für Ordnung«, hat die Frau mit dem schwarzen Mantel gesagt. Sie hat eine dicke Nase. Der Junge bekommt warme Milch und ein Stück Brot mit Schmierkäse.
Sie holt mich bald wieder ab. Vielleicht schon morgen, denkt der Junge, als er einen Tritt gegen das Schienbein bekommt.
»Hier kommste nicht mehr so schnell weg«, sagt der Treter. Er ist einer von den Älteren. Einer von denen, die für Ordnung sorgen. »Manchmal kommen welche und nehmen jemanden mit. Du bist noch jung genug. Vielleicht haste Glück!«
»Meine Mutter kommt wieder und holt mich ab«, flüstert der Junge.
»Wer’s glaubt! Die hat dich doch abgehakt, sonst wärst du nicht hier.«
Der Junge schüttelt so heftig den Kopf, dass der ganze Körper vibriert und dabei die Milch umfällt. Ein harter Griff fasst seinen Oberarm und zerrt ihn in die Ecke des Speisesaales.
Erst als alle fertig mit dem Essen sind, darf er von dort weg. Sein Magen knurrt die ganze Nacht und sein Kissen hat einen nassen Fleck.
Mittwoch, 1.3.
Thiemo bahnte sich einen Weg durch die Stadt. Es war eine elendige Gurkerei von Jever zur Südstadt Wilhelmshavens. Bald konnte er von Neustadtgödens aus fahren. Wenn er die Strecke über Mariensiel wählte, ging es schnell, weil er die großen Straßen komplett vermeiden konnte.
Thiemo war jetzt ganz zu Linda gezogen, nachdem sich spontan jemand für seine Bude in Sande interessiert hatte und er sie mit all dem Abstand, den er gezahlt haben wollte, losgeworden war.
Die restlichen Möbel hatte er verschrottet. Sie würden eine neue Küche bekommen, auch das Wohnzimmer hatten sie schon bestellt. Die anderen Sachen wollten sie von Linda nehmen. Sie waren Laurin vertraut, darauf legte Linda Wert. Außerdem hatte sie so ihre Vorstellungen, wie ein Möbelstück beschaffen sein musste, um keine schlechte Aura auszustrahlen. Was verstand er denn schon von diesem Spinnerkram. Aber es war ihm egal, schön waren die Möbel von Linda ja. Wenigstens stand sie nicht auf Schnörkel und Troddeln.
Mit dem Kleinen lief es auch etwas besser. Hin und wieder schlief er jetzt sogar in seinem Bett. Thiemo hatte die vage Hoffnung, dass Laurin ihn langsam akzeptierte.
Das Pflegeheim lag, von der Sonne angestrahlt, im Morgenlicht. Thiemo war froh, sich für die Leitung dieses Heimes entschieden zu haben. Es war zwar eine große Verantwortung, allein schon wegen der Größe des Hauses und der Anzahl der Mitarbeiter. Doch es war einfach schön hier und er konnte seine Vorstellungen von optimaler Altenbetreuung durchsetzen, auch wenn er an der Pflege selbst nicht mehr beteiligt war.
Die Sache Lambacher schien wohl im Sande zu verlaufen. Gut, dass er das nicht an die große Glocke gehängt hatte, obwohl es durchaus zum Personal durchgesickert war. Aber nachdem der Kommissar noch einmal da gewesen war und ihm mitgeteilt hatte, dass die Anschuldigungen offensichtlich haltlos waren, kehrte in den Abteilungen wieder Ruhe ein.
Thiemo grinste. Linda, die gar nichts damit zu tun hatte, war besonders erleichtert gewesen. Sie hatte die Sache als ganz böses Omen gesehen. Linda dachte so. Thiemo fand, dass sie sich zu sehr mit Schicksal, Aura und solchen Dingen beschäftigte und hoffte, sie würde in der neuen Umgebung damit aufhören. Es war ihm etwas unheimlich. Er wusste, dass sie damals in ihrer Zeit in Köln damit begonnen hatte. Wahrscheinlich war sie in ihrer Gutgläubigkeit diesem Spinner aufgesessen, hatte sich nicht nur das Kind machen, sondern auch noch das Hirn vergiften lassen. Es würde hier in ihrer alten Heimat sicher bald besser werden. Er war da, also brauchte sie solche Sachen nicht mehr.
Thiemo schaute optimistisch in die Zukunft. Er hatte alles im Griff.
Der Tod des Drachen war weiß Gott kein böses Omen für ihre Zukunft. Hätte Linda die Lambacher gekannt, würde sie so etwas mit Sicherheit nicht denken.
Thiemo und die zuständigen Schwestern waren pflichtbewusst zur Beerdigung erschienen und hatten Hubert Lambacher ihr ehrliches Beileid ausgesprochen. Es war ein sonniger Wintertag gewesen, der eher gute Laune als Trauerstimmung ausdrückte. Während sich die Sonne funkelnd in den Raureifkristallen brach, wurde der Sarg in die Erde gelassen. Die Trauergemeinde war denkbar klein gewesen, die Lambachers hatten kaum Familie und scheinbar keine Freunde gehabt. Die paar Gesichter waren wahrscheinlich Kollegen von Hubert Lambacher, die sich verpflichtet gefühlt hatten, ihm beizustehen.
Der Mann war jetzt ganz allein. Thiemo fragte sich, was Lambacher nun mit seiner vielen Freizeit