Krähenflüstern. Regine Kölpin

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Krähenflüstern - Regine Kölpin

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ein Nichts in so einem Spiel«, sagt er.

      Der Junge nickt. Er hat keine Ahnung, was eine Nutte ist, aber der Treter hat sicher recht. Er weiß alles.

      Manchmal macht er mit den Jungen seltsame Sachen auf dem Klo. Der Junge hat Angst, vor allem, als der Treter meint, demnächst sei er dran. So ein fünfjähriger Hintern hätte was.

      Er ist aber nie dran, weil er Schmiere stehen muss. Dabei hört er komische Geräusche, manchmal ein leises Weinen. Dann wird der Treter wütend, schlägt zu. Der Junge legt seine Hände an die Ohren und hält die Klappe. Es ist besser, still zu tun, was der Treter sagt. Einfach nicht auffallen, das machen, was ihm befohlen wird. Der Treter ist schon vierzehn und der Älteste hier. Er sorgt für Ordnung, hat die schwarze Frau gesagt.

      »Irgendwann schnapp ich mir eine der Nonnen, irgendwann«, lacht der Treter, nachdem er mit zwei von den kleineren Jungs im Klo gewesen ist. Sie wischen sich verstohlen die rotgeränderten Augen, verschwinden schnell und lautlos, als seien sie nie da gewesen.

      »Du machst deine Sache gut, heißt von jetzt an Schmierlapp.« Der Treter klopft dem Jungen leicht auf die Schulter. »Schmierlapp. Von Schmiere stehen.«

      Der ist glücklich. Bislang ist er wie ein Chamäleon durch die Räume geschlichen, hat versucht, vor allem dem Treter nicht aufzufallen, aber jetzt ist er wer, hat eine Identität. Er hat einen Namen. Jeder, der hier jemand ist, hat einen Namen. Nicht den, den die Schwestern und Pfleger benutzen, sondern einen besonderen, einen, der die Jungen erst dazugehören lässt. Und den der Treter erfunden hat.

      Es ist die erste Nacht, in der der Junge nicht ins Bett macht und durchschläft.

      Montag, 20.3

      Der letzte Möbelpacker hatte soeben das Haus verlassen. Linda ließ sich auf eine der Umzugskisten fallen und sah sich um. Es würde dauern, bis sie in dem neu gebauten Haus so etwas wie Atmosphäre geschaffen hatte. Noch gehörte es nicht wirklich zu ihnen. Sie würde es heimlich nach ihren Vorstellungen polen, aufpassen, dass alle positive Energie gut fließen konnte. Leicht würde es nicht werden, das vor Thiemo geheim zu halten. Wenn er mitbekam, dass sie das Haus unter diesen gewissen Gesichtspunkten einrichtete, würde er vermutlich sauer werden, wie immer, wenn es um das Thema ging. Er hatte einfach kein Verständnis dafür. Es war der einzige Punkt, an dem sie jedes Mal richtig aneinandergerieten. Linda konnte sich auch nicht erklären, weshalb. So schlimm war es ja nun nicht.

      Für Thiemo gab es nun mal kein »Dahinter« im Leben. Dabei war es so wichtig, in einer guten Atmosphäre zu leben. Linda seufzte leise und dachte dann an das kurze Gespräch, das sie nach langer Zeit mal wieder mit ihrem Vater geführt hatte.

      »Das dauert, bis ein Haus richtig zu einem gehört, Linda«, hatte er am Telefon gesagt. »Ich weiß noch, wie es bei uns damals war, als wir eingezogen waren. Mit dir als Säugling.« Dann hatte er geschwiegen und kurz danach aufgelegt. Weil ihn die Erinnerung an Lindas Mutter übermannt hatte und er deshalb nicht mehr sprechen konnte. So endeten ihre Gespräche immer.

      Sie hatte immer schon das Gefühl gehabt, sie sei für ihren Vater eine Konkurrenz um die Gunst der Mutter. Er hatte Linda oft in ihr Zimmer geschickt, wenn sie sich nach seiner Ansicht zu lange miteinander beschäftigt hatten. Das war ein Grund für sie gewesen, nach Köln zu gehen. Sie wollte weg von ihm und seinen Eifersüchteleien. Von allein wäre sie niemals wieder zurückgekommen. Auch nicht nach Mutters Tod.

      Denn in Köln hatte es aufgehört, dieses seltsame Gefühl, anders zu sein. Etwas zu vermissen und gleichzeitig in Panik zu geraten, weil sie dachte, jemand sei hinter ihr her. Martin, Laurins Vater, hatte damals gemeint, es läge sicher daran, dass sie mit ihrem Vater in solcher Konkurrenz gelebt hatte. Linda wusste nicht, ob es stimmte, aber die Distanz zu ihrem Vater hatte ihr mehr als gut getan. Dank Martin hatte sie gelernt, mit Ängsten umzugehen. Sie hatte ein gesundes Bauchgefühl entwickelt, gelernt, positive Energie für sich zu nutzen. Die Zeit in Köln war zu Anfang ganz leicht, ganz einfach gewesen. Gemeinsam hatte sie mit Martin die Schwangerschaft erlebt, die Geburt von Laurin und seine ersten drei Jahre.

      Aber dann hatte Martin eine andere gehabt, eine Göttin, wie er sich ausdrückte. Von da ab kannte er Linda und Laurin nicht mehr. Ein großer Freundeskreis existierte nicht, sie hatte zu eng in Martins Radius gelebt.

      So war sie doch nach Jever zurückgekehrt, wo sie ihren verbitterten Vater vorgefunden hatte, der ein Nichts ohne ihre Mutter war. Seit ihrem Tod brachte er das Gespräch immer wieder auf sie und verharrte mit seinen Gedanken genau dort, wo er vor drei Jahren stehen geblieben war: an ihrem offenen Grab.

      Linda schaute auf die Uhr und hoffte, dass Thiemo gleich kommen würde, um sie beim Auspacken zu unterstützen. Es war nicht gut, wenn sie grübelte. Aber das kam halt, wenn man so viel allein war. Thiemo war noch immer angespannt und gereizt. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie das größte Chaos erst allein bewältigte. Obwohl es schon seltsam war, dass Thiemo sich am Tag des Umzuges nicht frei genommen hatte.

      Wenn sie nur trainieren … Linda war für einen Augenblick wütend auf Sinje, die mit diesem einen unbedachten Satz Misstrauen gesät hatte, wo Linda vorher keins gekannt hatte. Aber Sinje war so, das hatte Linda schon festgestellt. Sie liebte es, vage Andeutungen zu machen, die in der Regel haltlos waren. Ansonsten kam Linda mit ihr gut aus. Immer, wenn es Schwierigkeiten gab, waren Sinje und Hanno zur Stelle, nahmen ihr Laurin ab oder packten ohne Worte mit an.

      Trotzdem wünschte sich Linda jetzt Thiemo an ihre Seite.

      »Es wird später heute«, hatte er vorhin gesagt. »Viel Ärger hier, aber ich will tun, was ich kann.«

      Linda stand auf und versuchte in der Küche etwas Essbares zu zaubern. Das war mit einem jammernden Fünfjährigen am Bein gar nicht so einfach.

      In der elektrischen Kühlbox fand sie etwas Käse und in der einen Küchenkiste eine Flasche Dornfelder, etwas Apfelsaft und ein Baguette zum Aufbacken. Klang gut, nur wurde der Backofen erst morgen angeschlossen. So hatte sie die Wahl, entweder pappweiches Baguette zu essen oder Sinje schon wieder um einen Gefallen zu bitten.

      Es klingelte. Laut und schrill. An diese Klingel musste sie sich erst noch gewöhnen. In Jever hatte sie einen Gong gehabt, der weich und dezent darauf hinwies, dass sich Besuch ankündigte. Sie hätte darauf achten sollen, hier auch so einen zu bekommen; nun war es zu spät.

      »Willkommen im neuen Zuhause!« Die Nachbarfamilien standen vor der Tür. Sie waren dabei, einen Kranz aufzuhängen, und überreichten ihr ein kleines Säckchen Salz und etwas hartes Brot.

      »Das ist ja toll, aber … ich kann euch gar nichts anbieten!« Linda zuckte mit den Schultern und lächelte die Meute verlegen an. »Ich könnte jetzt den Pizzaservice anrufen und ihn bitten, eine Flasche Grappa mitzubringen …«

      Die Frauen der Nachbarn hoben abwehrend die Hände.

      »Aber ich glaube, da hier noch das totale Chaos herrscht, dass ich mich jetzt einfach bedanke und …«

      In dem Augenblick quetschte Laurin seinen blonden Kopf zwischen die Knie seiner Mutter: »Was wollen die Leute?«, plapperte er. »Wir haben gar nix zu essen. Nur Pappebrot!«

      Linda zuckte mit den Schultern. »Sag ich doch!«

      »Macht nichts«, grinste Hanno. »Ich glaube, wir hätten euch vorwarnen sollen, aber ich dachte, Thiemo wüsste, dass am ersten Abend die Nachbarn mit einem Kranz kommen.«

      »Thiemo ist gar nicht da«, sagte Linda. Nach dem betretenen Schweigen, das sie damit auslöste, wurde ihr die Absurdität

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