Krähenflüstern. Regine Kölpin
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Sie sollte lieber den kurzen Moment der Ruhe und Entspannung genießen. Hektik hatte sie in den nächsten Tagen und Wochen noch genug. Linda warf einen Blick aus dem Fenster.
Die Sonne färbte das umliegende Brachland jetzt in einem schönen Rot. Es schien, als habe sich der Tontopf aus Sinjes und Hannos Haus über ganz Neustadtgödens gestülpt, um den Ort an der Gemütlichkeit dieses Hauses teilnehmen zu lassen. Aber genau das erweckte in Linda ein seltsames Gefühl des Eingesperrtseins, eine Unruhe, die sie nicht erklären konnte. Sie sollte wohl aufhören, sich mit ihren Rutengängen und den anderen Sachen zu befassen. Vielleicht hatte Thiemo recht, sie steigerte sich dadurch in irrationale Ängste. Sie war jetzt erwachsen. Niemand verfolgte sie mehr. Ihre Mutter war tot und sie war für ihren Vater jetzt eher Trost als Konkurrenz. Es war alles in Ordnung. Alles gut.
Linda begann ruhig zu atmen und entspannte sich wieder.
Sie stand auf, wollte nach dem Brot schauen und sah, dass Sinje die Backtemperatur nur auf 50 Grad gestellt hatte. Kein Wunder, dass das Baguette nicht fertig wurde.
Linda stellte die Temperatur um, ging ins Wohnzimmer und schaute erneut aus dem Erkerfenster. Laurin winkte ihr fröhlich zu.
Als das Brot fertig war, holte Linda es mit den neben dem Ofen liegenden Topfhandschuhen heraus und wickelte es in ein Geschirrhandtuch.
Linda trat vor die Tür. Alles war still. Das Rot der Sonne war von der Dämmerung abgelöst worden. Kein Mensch war mehr in den Straßen. Dieses Dorf schien mit der Sonne schlafen zu gehen. Es war noch nicht mal richtig dunkel und doch hatte die nächtliche Schwermut sich über die Häuser gelegt und das leise Summen der nicht weit entfernten Bundesstraße wirkte wie ein Schlafgesang. Linda sog die Luft ein, die hier klarer als in Jever zu sein schien, wo oft der Hopfengeruch der Brauerei durch die Straßen zog, den sie nicht mochte.
Sie hastete an dem Rohbau vorbei und empfand beim Anblick des grellen Lichtes, das Laurin in ihrem Haus eingeschaltet hatte, eine Kälte, die sich mit dem Begriff »Zuhause« nicht vereinbaren ließ. Linda drückte das warme Brot an sich.
*
Die Sonne war noch am Himmel und das Geschrei der Möwen forderte Tanja Wildbruch auf, sich noch einmal vom Sofa zu erheben und nach draußen zu gehen. Es war ein zu schöner Abend, um ihn vor dem Fernseher zu verbringen. Das hatte auch später noch seinen Reiz.
Wenn Tanja frei hatte, machte sie oft so spät noch einen Spaziergang durch die Salzwiesen im Groden. Sie liebte die Nähe des Meeres, nur umgeben von den Seevögeln und den seltsamen Pflanzen, die es auf der ganzen Welt nur hier gab. Am liebsten hatte sie den Geruch des Strandwermutes, dessen Duft so einzigartig in der Nase brannte, wenn man eines der silbrigen Blätter zwischen den Fingern zerrieb. Und der Friedhof der Wattentiere unter der Strandsalzmelden war eben auch ein Geheimnis, das nicht jeder kannte.
Sie hatte es einmal mit … – Tanja zuckte mit den Schultern. Nicht an ihn denken. Nie mehr. Es war vorbei und das war auch gut so. Sie hatte die Nase von männlichen Wesen seitdem gestrichen voll. Ihr Glaube an die große Liebe war von ihm zerstört worden. Am Ende hatte sie allein und völlig blamiert dagestanden. Sie hätte nie geglaubt, was für menschliche Abgründe dieser Mann barg. Zunächst war er der große Charmeur gewesen. Er hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Aber je länger sie zusammen gewesen waren, desto stärker hatte er sich verändert. Manchmal hatte Tanja fast Angst vor ihm gehabt. Am Ende hatte er sie wie ein abgebranntes Streichholz fallen lassen und in den Boden getreten.
Aus lauter Panik, dass sie irgendwem von ihrem Verhältnis erzählen könnte, hatte er sie damals mit nächtlichen anonymen Anrufen bombardiert und auf der Arbeit so lange bedroht, bis sie nur noch ein Nervenbündel gewesen war.
Sie hatte sich verändert seitdem. Tanja war ängstlicher geworden und vorsichtiger. Sie hätte gleich weggehen sollen, damals. Einfach weg und vergessen. Aber es hatte gedauert, bis sie ihre Lähmung überwunden hatte und in der Lage war, sich mit der Zukunft und dem, was sie wirklich wollte, auseinanderzusetzen. Das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass sie in jedem Fall an der See bleiben wollte; schon des Wattenmeeres wegen.
Tanja atmete durch. Sie hatte letzte Woche eine Zusage von einem Altenheim in Husum bekommen und ihren Job im Pflegezentrum gekündigt. Im Juni würde sie weggehen.
Sie flocht die blonden, langen Haare zu einem Zopf und schlüpfte im Keller in ihre hohen Gummistiefel. Der Parka und das Fernglas hingen griffbereit am Haken. Als sie durch das Treppenhaus nach draußen ging, hörte sie in ihrer Wohnung das Telefon klingeln und blieb stehen.
Sie hatten vor ein paar Tagen wieder begonnen, diese Anrufe. Wie damals schellte das Telefon mitten in der Nacht. Wieder dieses lautlose Innehalten, als stünde die Welt für diesen einen Moment still – um nach dem Begreifen, dass sich am anderen Ende der Leitung ein Mensch an ihrer Angst ergötzte, ein erschreckendes Getöse in ihrem Inneren auszulösen.
Oft genügte eine unerwartete Bewegung hinter ihr, diesen Schrecken auszulösen. Zu der Angst kam dann noch der Ärger bei der Arbeit. Wenigstens hatte sich diese Anschuldigung wegen der alten Lambacher als haltlos herausgestellt.
Tanja atmete tief ein. Es war gut, dass sie sich endlich traute, neu anzufangen. Sie musste diesen Schlussstrich ziehen.
Bis sie fort konnte, zu einer neuen Arbeitsstelle, gaben ihr die Einsamkeit und die Ruhe am Saum des Meeres Halt. Hier konnte sie sich beweisen, dass alles normal war und seinen Gang ging. Hin und wieder machte sie auch Führungen. Anderen Menschen die Schönheit dieser Landschaft näherzubringen, war eine erfüllende Aufgabe neben ihrem Job.
Tanja sog die salzige Luft tief ein. Sie hatte jetzt eine ganze Woche frei, brauchte keine Windeln zu wechseln, niemandem das Essen anzureichen und sich nicht mit Angehörigen auseinanderzusetzen. Es war ein guter Auftakt, heute Abend noch einmal hinauszugehen.
Tanja lief über den Deich und kletterte über das Holzgerüst, um auf die Salzwiesen zu gelangen. Die Sicht war noch gut, mit der Flut würde Nebel aufkommen. Das erkannte Tanja am Horizont, der schon in milchigem Weiß verschwamm. Aber jetzt am Abend hatte sie große Chancen, ein paar Vögel mehr im Deichvorland beobachten zu können. Das war Freiheit, das war Glück.
Sie lief auf dem ausgewiesenen Pfad. Um diese Zeit begannen die ersten Vögel zu brüten, da war es fatal, wenn man die Wege verließ. Denn so geschickt wie die Bodenbrüter des Wattenmeerraumes tarnte kaum ein Vogel sein Nest.
Tanja blieb stehen und nahm das Fernglas. Eine Schafstelze hob und senkte sich über der Rotschwingelwiese, flog dann weiter und ließ sich auf dem Zaun nieder. Es war friedlich hier. Um diese Zeit waren nur noch ein paar Hundebesitzer auf dem Deich, aber sie durften nicht hier herunter ins Naturschutzgebiet.
Tanja folgte dem Pfad. Sie hielt immer wieder an, um sich mit dem Fernglas umzusehen. In der Ferne gingen in Wilhelmshaven die Lichter an. Der Schornstein des Kohlekraftwerkes blinkte selbstgefällig über den Jadebusen.
Tanja ging weiter. Sie kam schließlich an den Wattsaum, wo sie mit den Stiefeln immer tiefer im Schlick versank. Es quatschte jedes Mal, wenn sie den Fuß anhob. Tanja suchte sich eine Quelleransammlung und stellte sich darauf. Noch schien das Wasser weit entfernt, aber schon bald würde es mit seiner ganzen ungezähmten Kraft durch die Priele schießen und das Watt überfluten. An der Kante der Salzwiesen würde die Nordsee heute aber nur lecken wie eine feuchte Zunge an einem süßen Eis. Tanja hatte es allerdings schon ein paar Mal erlebt, dass das Wasser bis an den Deich gekommen war, wenn der starke Wind die See in den Jadebusen gedrückt hatte. Die Kinder hier hatten die Auflage, sofort in den Schutz des Deiches zu kommen, wenn die Priele der Salzwiesen voll