Krähenflüstern. Regine Kölpin
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Linda sah auf die Uhr. Es war bald Zeit, Laurin von der Tagesmutter abzuholen. Sie gähnte. Der Kaffee würde ihr gut tun. Sie stellte den Wasserkocher an und setzte sich für einen Augenblick auf ein Brett, das sie als Bank auf ein paar Kalksandsteine gelegt hatte.
Sie war so müde. Jede Nacht erwachte sie davon, dass Thiemo aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken. Danach schlief er zwar wieder ein, wälzte sich aber unruhig im Bett hin und her. Sie lag dann den Rest der Nacht grübelnd neben ihm und lauschte seinem unruhigen Atem. Oft merkte Linda, dass er die Decke anstarrte, als bekäme er von dort eine Antwort auf all die Fragen, die sie nicht kannte.
»Ich denke, wir werden dort glücklich und es läuft besser«, hatte Thiemo eines Nachts flüsternd gesagt. Eher zu sich selbst als zu Linda, von der er annahm, sie schliefe.
Damit hatte er wohl seine ureigensten Gedanken das erste Mal in Worte gefasst, aber der Blick seiner Augen war weiter düster und schwer. Er wirkte gehetzt, eine Regung, die Linda an ihm nicht kannte und sie das erste Mal darüber nachdenken ließ, dass sie von ihrem Mann eigentlich nur wenig wusste.
Er sprach nicht viel über sich. Thiemos Vater führte als Steuerberater eine Kanzlei und seine Mutter, eine rundliche Frau, verblasste hinter der Dominanz ihres Mannes. Sie trat nur in Form von gebackenem Apfelkuchen in den Vordergrund, verschwand aber ebenso schnell, wie dieser gegessen wurde.
Thiemo schien nichts dabei zu finden. Er kannte es auch nicht anders, aber Linda kam es immer recht armselig vor. Seine Mutter war für sie das beste Argument, sich doch recht schnell wieder Arbeit zu suchen, damit sie sich nicht unter Zimtschnecken und Schweinebraten als die Frau an Thiemos Seite verlor.
Irgendwann stand sie in solchen Nächten dann meistens auf und sah nach Laurin, der sich inzwischen, trotz Thiemos Anwesenheit, dazu bequemt hatte, in sein eigenes Zimmer zu ziehen, statt in ihrem Bett zu übernachten. Erst sein gleichmäßiger Atem, der beruhigend durch den Raum zog, ließ Lindas Lider wieder schwerer werden. Danach konnte sie dann neben Thiemo endlich einschlafen.
Ein lautes Ratschen nebenan verriet, dass Thiemo eine weitere Tapetenbahn wieder von der Wand gerissen hatte. Er war einfach kein Handwerker.
Das Wasser für den Cappuccino blubberte gerade vor sich hin, als es klingelte.
»Hallo!« Sinje hielt Linda einen Korb mit Tassen und Tellern entgegen. Sie rümpfte die Nase. »Mensch, stinkt das hier nach nassen Tapeten und Kleister.« Sie schüttelte sich. »Brr, bin ich froh, dass wir das hinter uns haben.«
»Wir wollten euch mal was Gutes tun und haben frischen Kaffee und Butterkuchen mitgebracht«, sagte Hanno. Er stand etwas linkisch hinter ihr und trug eine Thermoskanne und eine Kuchenplatte. Das war typisch für die beiden: spontan aufkreuzen und Hilfe anbieten.
»Super! Wir wollten nämlich gerade einen Cappuccino trinken.« Linda trat beiseite, um Hanno und Sinje hereinzulassen.
»So ein Mist!«, hörten sie aus dem Wohnzimmer.
»Ist dein Gatte etwas ungeduldig heute?« Sinje stellte den Korb auf den Boden. Die Tassen schepperten leise. »Habt ihr kein Radio? Ein bisschen Musik würde seine Stimmung vielleicht etwas heben.« Sie ging zum Fenster, das vor Feuchtigkeit beschlagen war. Mit dem Zeigefinger malte sie das ›Haus vom Nikolaus‹. »Kannst du das auch?«, fragte sie.
Linda nickte. »Von früher, klar. Ich fange aber immer unten links an.«
Hanno feixte und stellte die Kuchenplatte aufs Brett. »Wo ist Thiemo?«
Linda deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer.
»Ich helfe ihm mal.«
Sinje baute mit Hilfe zweier Kartons und eines herumliegenden Brettes einen Tisch. »Ich weiß, wie anstrengend die Endphase ist. Nichts kann schnell genug gehen und die Männer sind dann einfach … seltsam.« Sie öffnete die Thermoskanne und goss etwas Kaffee in die Tassen. Dann hob sie den Deckel der Kuchenplatte. Der Geruch frisch gebackenen Butterkuchens wehte ihnen entgegen. »Schon besser als der Baustellengeruch!«, sagte sie zufrieden.
»Wann hast du denn den gebacken?«, staunte Linda. »Du hast doch den ganzen Tag gearbeitet!«
Sinje winkte ab. »Organisation ist alles«, strahlte sie. »Hatte am Morgen schon alles vorbereitet, der Backofen ist programmierbar …«
Von nebenan hörte man Thiemo wieder fluchen.
»Ich kenne ihn so gar nicht. So schlecht gelaunt.« Linda runzelte die Stirn.
»Im Augenblick ist nix mit Sunnyboy, was?« Sinje schnitt ein Stück Kuchen ab und reichte es Linda. »Komm, iss! Lass die beiden das mal machen. Seine Laune wird schon wieder besser, wenn der Spaß hier vorbei ist.« Sie nahm sich selbst auch ein Stück. »Hanno ist jetzt in seinem Element«, sagte Sinje kauend. »Es gibt einfach nichts, was er lieber tut, als den Retter zu spielen. – Ganz schön nervig manchmal.«
»Musst du heute nicht mehr arbeiten?«, fragte Linda.
»Nein, habe frei. Und Hanno hat Schlechtwetter!« Sinje kaute bereits am nächsten Stück Kuchen.
»Haben die Männer denn bei solch einem Wetter nachher überhaupt Training?« Linda sah auf die Uhr. Freitagabends nahm es Laurins Tagesmutter immer sehr genau.
»Die trainieren immer. Fußballer eben« sagte Sinje. »Solange sie nur trainieren …«
Linda sah auf und entdeckte in Sinjes Gesicht zum ersten Mal etwas Nachdenkliches, das so gar nicht zu ihrem fröhlichen Gemüt passte. »Wie meinst du das?«
»Ach, nichts. Männer eben.«
»Du meinst, Bier trinken in der Kneipe und so?«
Sinje nickte schnell und Linda dachte für den Hauch des Moments, dass ihre Nachbarin vielleicht auch noch etwas anderes für möglich halten könnte. Doch sie wehrte die Vermutung ab. Sinjes Andeutung sollte sich nicht in ihrem Gehirn einnisten wie eine Schlange und womöglich, wann immer es ihr beliebte, wieder zum Vorschein kommen, um das Vertrauen, das Linda in ihren Mann hatte, zu vergiften.
»Wenn Hanno Thiemo jetzt ohnehin noch die halbe Stunde hilft, bis sie zum Fußball müssen, kann ich ja ohne schlechtes Gewissen losfahren, oder?« Linda zuckte mit den Schultern. »Ist immer viel Organisation mit einem Kind.«
»Sei froh, dass du eins hast«, sagte Sinje und verschlang ein weiteres Stück Butterkuchen.
1969
Sie ist nicht zurückgekommen. Der Treter hat gesagt, wahrscheinlich sei sie eine Nutte, die dürften ihre Kinder nicht behalten. Seine Mutter sei auch so eine. Bumst