Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer

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Tierplastiken und Tierzeichnungen Heinz Teuerjahrs aus dem Bayerischen Wald. Nichts lenkt ab vom guten Gespräch in der großen lichtdurchfluteten Bibliothek, die zugleich das Wohnzimmer ersetzt, und nichts stört den schweifenden Blick durch das Panoramafenster über dem Donaubogen. Neben der Bibliothek, in der Mitte der oberen Etage, liegt die helle Essküche mit direktem Durchgang zum Balkon. Die andere Frontseite des Obergeschosses nimmt das große Arbeitszimmer ein. In der Mitte ein Schreibtisch, der Bände füllende Geschichten erzählen könnte. So aufgeräumt, wie er ist, erzählt er erst einmal etwas über die Arbeitsweise des Dichters. In einem Telefonat am zeitigen Nachmittag einige Tage zuvor war ich besorgt, möglicherweise in die Mittagsruhe hinein zu stören. Reiner Kunze hatte aufgelacht: „Mittagsruhe?! Ich sitze seit Stunden am Computer.“ Der Computerarbeitsplatz direkt neben dem schweren Schreibtisch ist sein Tribut an die Zeit. Wie zum Ausgleich wird die Stirnseite des Raumes beherrscht von einem mannshohen Glasschrank mit Klassik-CDs. Man ahnt die von ihnen ausgehende Inspiration. An der Wand im Rücken hängt ein riesiges Ölbild mit einem bedrückend düsteren Vorwinterhimmel. Nur an einer winzigen Stelle reißen die schweren Wolken auf und lassen ein Blau ahnen. Er mag dieses Bild sehr, sagt Reiner Kunze.

      Auf einem Stativ am Fenster verblüfft der Fotoapparat mit jenem mächtigen 400-Milimeterobjektiv, das vor Jahren die namibischen Fotoimpressionen in Steine und Lieder2 möglich gemacht hat. Vierzig großformatige Motive vom Donaubogen, beantwortet er den fragenden Blick des Besuchers, seien sein Geschenk an Obernzell für eine Ausstellung im Schloss zum 750-jährigen Gemeindejubiläum im Sommer. Man darf sie sich vorstellen, die steigenden Morgennebel über dem Strom und der Landzunge, die leuchtenden Farben des Herbstes am baumbewachsenen Steilhang gegenüber, das abendliche Felsenglühen über dem Donauknie …

      Es ist die Hommage eines Angekommenen an diesen Heimat gewordenen Ort. Noch ahnt niemand, die Ausstellung in Schloß Obernzell wird eine Mut machende Gegenausstellung zum größten Hochwasser, das Passau und die Flussregion seit dem 15. Jahrhundert trifft.

      Reiner Kunze deutet auf die Burg Krämpelstein im Felshang direkt gegenüber. Dort auf der anderen Donauseite liegt schon Österreich. Mit Winden und Ketten hätten Raubritter einst an der Flussenge Handelschiffe aufgebracht. Nur dieser eine Satz dazu. Es soll keine Zeit verloren werden: „Ich zeige Ihnen das Archiv.“

      Das Archiv ist ein kleiner Raum im Erdgeschoss, direkt neben Elisabeth Kunzes Arbeitszimmer, von dem aus sie ihrem Mann den Rücken frei hält, einen Teil der Post und Anfragen beantwortet. Die beiden sind ein perfektes Team. Nein, an Urlaub denken sie beide nicht, sagt Elisabeth Kunze, und: Die Wochentage reichen für die Arbeit längst nicht aus. Seit sieben Jahren bauen sie das Archiv auf, in den vergangenen vier Monaten haben sie es inventarisiert.

      Dieses Archiv ist ein Herzstück der Reiner und Elisabeth Kunze Stiftung. In einem Wandschrank, bescheiden hinter Holztüren, stehen die Ausgaben seiner Bücher in über dreißig Sprachen. Vor allem aber enthält dieses Archiv mehr als fünftausend Schrift-, Bild- und Tondokumente für das künftige Ausstellungshaus. Es sind einmalige Dokumente, die die Hintergründe des Werkes und Wirkens von Reiner Kunze im Spannungsfeld der Zeit belegen. Er zieht Schubladen auf, eine nach der anderen, darin nummeriert zahllose gelbe Einlegemappen, und er sagt, warum ihnen die Stiftung so wichtig ist: „Vergangenheit nicht zu kennen, kann die Zukunft kosten.“ Damit ist ein Ton angeschlagen. Dann folgt die Aufforderung: „Fragen Sie.“

      Kartoffeln, Salz und Senf

      Meiner kindheit liehen ihre farben

      kohle, gras und himmel

      unter dieser trikolore trat ich an,

      ein hungerflüchter, süchtig

      nach schönem3

      An sein Geburtshaus in Oelsnitz im Erzgebirge hat Reiner Kunze keine Erinnerung. Als seine Eltern mit ihm dort ausziehen, ist er gerade ein Jahr. Und doch erzählt das Geburtshaus, wie alle Häuser, in denen wir leben, viel über uns. Kunzes Geburtshaus berührt durch seine außerordentliche Ärmlichkeit. Es misst wohl kaum vier mal sechs Meter. Die letzten Jahre, bis zu seinem Abriss 1996, bleibt es unbewohnt.

      Die Familie zieht mehrfach um in der fast Zwanzigtausendeinwohnerstadt im Becken des Erzgebirges, die es durch Leinenwebereien, durch Strumpfwirkereien und im 19. Jahrhundert durch Steinkohlebergbau zu relativem Wohlstand gebracht hat, jedenfalls für erzgebirgische Verhältnisse.

      Die meiste Zeit seiner Kindheit und Jugend wohnt Reiner Kunze in einem alten Mehrfamilienhaus an der „Inneren Stollberger Straße“. Die Eltern und er leben in einfachsten Verhältnissen. Die Toilette auf der Treppe müssen sie sich mit anderen Mietern teilen. Er erzählt:

       Wir wohnten ganz oben, unterm Dach. Es gab nur einen kleinen Raum in der Mitte, der eine gerade Decke hatte. In diesem Raum wurde gekocht und die Zinkbadewanne aufgestellt. Die holten wir vom Boden. In dem Zimmer stand auch das Sofa. Nebenan unter der Dachschräge war noch eine Kammer. Dort standen die Betten zur niedrigen Seite hin. An der hohen Wandseite befand sich der große Schrank, der alles enthielt, was man an Kleidung brauchte, auch Betttücher und Wäsche. Über der Tür hing das einzige Bild, das wir besaßen. Es war ein Hochzeitsgeschenk. Darauf war Jesus als Hirte mit einer Herde Schafe zu sehen. Und auf den Wolken lagerten sich kleine pausbäckige rosige Engelein. Das war meine künstlerische Vorbildung, die ich in der frühen Kindheit genoss.

      Seine Mutter Martha ist Kettlerin. Einmal in der Woche holt sie mit dem Handwagen aus der Strumpffabrik im über zehn Kilometer entfernten Oberlungwitz vorgefertigte Strümpfe. Oft nimmt sie ihn auf den langen Weg mit. Zu Hause näht sie auf der Kettelmaschine am Fenster die Nähte. Aber er erinnert sich auch, wie sie beide auf der Halde, die dem kleinen Jungen schwindelerregend hoch vorkommt, Kohle lesen.

      Der Vater Ernst ist, wie dessen Vater schon, Bergmann in der Steinkohle. Nahezu wöchentlich passieren Unfälle. Jahrzehnte seines Lebens fährt er, bevor die Sonne aufgeht, ein in den Kaiserin-Augusta-Schacht, und er verlässt ihn erst, wenn der Tag zur Neige geht.

       DIE SCHACHTTASCHE

      Großvater war mit ihr

      zur schicht gegangen

      Echt leder

      Instandgehalten

      mit ahle und schusterzwirn

      Nun ging mit ihr zur schicht

      der vater

      Ein erbstück

      Das einzige4

      An seinen Großvater hat Reiner Kunze prägende Erinnerungen aus frühen Kindertagen. Er darf manchmal dabei sein, wenn Großvater in den Hungerjahren für den Bauern Kühe auf der Weide hütet. Da kommt es schon mal vor, dass das Kind barfuß in einem frischen Kuhfladen steht und sich freut, wie der die Füße wärmt. Oder er schaut Großvater beim Stöckeroden zu. Wer einmal dicke Baumstümpfe gerodet hat, weiß, was für eine Arbeit das ist. Einmal, als der Großvater im Tausch gegen etwas Essbares beim Bauern Brennholz hackt, spielt das Kind auf dem Heuboden und findet ein Hühnerei. Was für ein Fund! Mit größter Freude läuft es zum Großvater. Der nimmt das Ei wortlos und bringt es der Bäuerin ins Haus. Als er zurückkommt, sagt er: „Mir sei ehrliche Leit.“

      Dieser Satz, sagt Reiner Kunze, habe sich tief in ihm eingegraben. Vom Großvater habe er die Ehrlichkeit und durch den Vater habe er die Güte schätzen gelernt – und die Größe, die im Schweigen liegen kann.

      Auch als

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