Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer страница 6
Das Datum jedoch, das ich dem ersten gleichsetze [dem der Geburt, d. Verf.], ist das meiner Aufnahme als Kandidat für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Was wäre ich für das Friedenslager, für die Arbeiterklasse, ja für mich selbst, wenn mich nicht die Partei schule und erziehe? Im Strom der Zeit triebe ich vielleicht mit dahin, aber selber lenken und andere Lenken lehren könnte ich … nicht.10
Doch bald stellen sich erste Irritationen ein. Bei den Volkskammer- und Regionalwahlen im Oktober 1950 werden die Schüler als „Wahlschlepper“ eingesetzt. Ihr Auftrag ist es, schon am Vormittag die Bewohner in ihren Häusern aufzusuchen, zu fragen, ob sie wählen waren. Wenn nicht, sollen sie sie zum Wahlbüro begleiten. Das ist dem Schüler Kunze überaus peinlich. Noch peinlicher wird es, als er und ein Klassenkamerad sich davon überzeugen müssen, dass der Ärger eines dieser Wähler berechtigt ist: Es liegt kein Stift in der Wahlkabine. Sie gehen in ein anderes Wahllokal. Auch dort kein Stift. Sie sind empört, laufen in die Schule und berichten dem Rektor, Herrn Bellmann, was sie erlebt haben:
Er bekam einen hochroten Kopf, die Adern schwollen ihm an: „Unmöglich!“ Wütend rief er in unserer Gegenwart die Kreisleitung an und protestierte. Die Folge war, dass er mangels Parteilichkeit gerügt und später in eine andere Schule versetzt wurde.
Eigentlich will Reiner Kunze an der Kunstakademie Dresden studieren. Er besteht die Vorauswahl. An der Oberschule gibt es jedoch zwei Lehrerinnen, die ihm ideologisch zusetzen und ihn dazu bringen, sich für ein Studium der Publizistik zu entscheiden. Sie handeln damit strikt im Interesse der Partei. Der Abiturient hat keine Vorstellung, was dieses Studium bedeutet.
Nach dem Abitur 1951 beginnt er an der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig unter anderem das Fach Publizistik zu studieren. Seinen Neigungen folgend belegt er Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, weshalb er nach Gründung der Fakultät für Journalistik 1954 dem Fachbereich Kulturpolitik zugeordnet wird.
Mit ihrer Umgründung untersteht diese Fakultät nur noch pro forma der Universität, de facto wird sie ein Ausbildungsinstitut des Zentralkomitees der SED. Der Auftrag: Nach leninistischen Prinzipien sollen die angehenden Journalisten hier zur „schärfsten Waffe der Partei“ geformt werden. Wer im „Roten Kloster“ sein Diplom erwirbt, gehört fast schon zur Nomenklatur.
Aus heutiger Distanz, sagt Reiner Kunze, habe er das Studium in Erinnerung als Jahre hochgradiger Indoktrination. Er habe den Professoren geglaubt. Sie seien für ihn unbezweifelbare Autoritäten gewesen. Er ist ein guter Student, erhält Leistungsstipendium und Auszeichnungen.
Von den Spannungen in der Gesellschaft lebt er weitgehend abgeschottet. Die Ereignisse um den Volksaufstand des 17. Juni 1953 erreichen ihn kaum. In diesen Tagen liegt er frisch am Blinddarm operiert am Rande der Stadt im Krankenhaus Leipzig Dölitz. Er weiß nicht, dass allein in Leipzig vierzigtausend Arbeiter die Betriebe besetzen und mit anderen auf die Straße gehen. Erst durch eine Tante, die ihn besucht, erfährt er überhaupt etwas von den Protesten gegen Preissteigerungen und Normerhöhungen, von besetzten und verwüsteten Parteihäusern und Angriffen auf Funktionäre und Polizei, vom Einsatz russischer Panzer, vom Ausnahmezustand und Verhaftungen. Die Tante ist bei ihrem Besuch vollkommen aufgelöst und hat Angst zu erzählen.
Das wenige, dass er über den 17. Juni erfährt, gibt ihm zu denken. An der Universität hören die Studenten danach gebetsmühlenartig von „Unruhen“ als „Werk imperialistischer Provokateure und faschistischer Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer“. Schuldig seien allein der faschistische Adenauer-Staat, Eisenhower und sein Sender RIAS in West-Berlin. Die Feinde des Sozialismus hätten dafür gesorgt, dass Nazis aus Gefängnissen befreit worden seien. Sie hätten versucht, die Macht an sich zu reißen. Nach diesem „konterrevolutionären Putschversuch“ werden die Studenten auf noch unbedingtere revolutionäre Wachsamkeit eingeschworen. Reiner Kunze ist eingesponnen in diesen Kokon.
Seine Studienleistungen und die positive Beurteilung als Genosse eröffnen ihm 1955 eine Assistentenstelle mit Lehrauftrag. Zuvor hatte er 1954 ein Praktikum bei der „Magdeburger Volksstimme“ absolviert. Auch diese Beurteilung fällt sehr wohlwollend aus. Er habe „zur vollsten Zufriedenheit“ gearbeitet, sei „wiederholt durch besonders gute Reportagen über künstlerische und andere Ereignisse hervorgetreten“, und er „leitete zeitweilig selbständig die Kreisredaktion Haldesleben“.11
Reiner Kunze beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn an der Uni, er wird aufgenommen in den Journalistenverband und in den Schriftstellerverband der DDR. Aber er vergisst auch nicht, woher er kommt.
ANTWORT
Mein Vater, sagt ihr,
mein Vater im Schacht
habe Risse im Rücken,
Narben,
grindige Spuren niedergegangenen Gesteins
ich aber, ich
sänge die Liebe.
Ich sage:
Eben, deshalb.12
Hier spricht die Ehrfurcht vor der Arbeit, zugleich das Glücksempfinden, auserwählt zu sein. Vier Jahre lang führt er Seminare und hält Vorlesungen über „Die literarischen Genres in der Zeitung“.
In seiner Anfangszeit als Assistent und Mitglied der Parteileitung gibt er die verinnerlichte Indoktrination weiter: „Ich habe daran geglaubt. Ich habe bestimmt anderen geschadet.“ Als Gruppenführer der Kampfgruppe läuft er links außen. Er ist es, der die Befehle gibt. Als Seminarleiter ist er streng. Es geht dabei weniger um politische Auseinandersetzungen, die hat er mit seinen Studenten selten. Ihm geht es um deren Eignung. Kompromisslos vertritt er die Position, Studenten mit schwachen Leistungen gehören nicht ins Journalistik-Studium, auch wenn sie Arbeiter- oder Bauernkinder oder privilegiert sind durch politische Empfehlungen oder Funktionärseltern. Wer bei Prüfungen durchfällt, müsse gehen, damit er einem besseren Studenten nicht den Platz wegnehme.
Reiner Kunze hat den Ruf eines strengen Idealisten. Es spricht für sich, dass er in seinem Tagebuch Am Sonnenhang diese Einlassungen Wolf Biermanns aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 24.08.1990 zitiert:
Noch heute, nach so vielen Jahren, geht Helga Novak, die große verkannte Dichterin dieses Landes, an die Decke, wenn ich die „sensiblen wege“ meines Freundes Kunze verteidige. (…) „Kunze? Der!!“ Und dann erzählt sie, wie es an der Journalistenhochschule in Leipzig war, wo Kunze zum Lehrkörper gehörte, ein junger ehrgeiziger Assistent. Kunze wurde als brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet. 13
Darauf angesprochen, sagt Reiner Kunze:
Was Helga Novak betraf, und da war noch jemand, die Brigitte Klump, beide wussten nicht, was im Lehrkörper vorging, dass ich so aufgetreten bin, um überhaupt noch auftreten zu dürfen. Sie haben nicht gewusst, wie mein Verhältnis zu den Studenten war, deren Vertrauen ich besaß.
Beide, Helga M. Novak und Brigitte Klump kommen 1954 als Studentinnen an die Journalistische Fakultät. 1956 soll Brigitte Klump eine Arbeit über „Die Vulgarisierung der Literatur durch Bertolt Brecht“ schreiben. Brecht lädt sie und andere interessierte