Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer
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Brigitte Klump, sagt Reiner Kunze, hatte einen ähnlichen Eindruck von mir wie Helga Novak. Eines Tages brachte sie mir eine schriftliche Arbeit über die Erziehung zur Heuchelei. Ich habe sie beiseitegenommen und gesagt: „Diese Arbeit müsste ich der Stasi geben. Vernichte sie. Ich habe sie nicht gesehen.“ Das schreibt sie dann auch in ihrem Buch. In dem Augenblick hatte sie begriffen, was der Kunze manchmal öffentlich von sich gibt, ist vielleicht doch nicht der wahre Kunze.
Ein Beispiel. Wir hatten einen hochbegabten Studenten, der unterstützte mich als Hilfsassistent. Er konnte sehr gut schreiben. Als er mir Arbeiten von sich zeigte, habe ich gesagt: „Junge, das ist gefährlich.“ Dem habe ich geraten, wie er solche Sachen aufheben soll. Sie hatten einen großen Garten: „Nimm doch Einkochgläser. Schreib sehr klein, leg die Manuskripte rein und vergrabe sie.“
In die erste schwere Auseinandersetzung innerhalb der Fakultät gerät Reiner Kunze 1956. Er kennt zum Aufstand in Ungarn die Argumentation aus dem Neuen Deutschland und aus Parteigruppenversammlungen: Die ganze Schuld läge bei westlichen und ungarischen reaktionären Kräften. Der Hochverräter Imre Nagy und die Petöfi-Renegaten hätten versucht, die volksdemokratische Ordnung zu stürzen und eine Restauration des Kapitalismus herbeizuführen. Damit hätten sie den Weltfrieden gefährdet. Durch die brüderliche Hilfe sowjetischer Truppen und durch die revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung unter Janos Kádár sei Ungarn gerettet worden. Bewusst verschwiegen wird in der SED-Informationspolitik, dass es sich in Ungarn ähnlich wie in der DDR 1953 um eine Volksbefreiungsbewegung handelt, hier hervorgegangen aus Studentenprotesten, dass russische Panzer gegen ungarische Karabiner und den reformkommunistischen Hoffnungsträger Imre Nagy eingesetzt werden und ein Blutbad anrichten.
Eingeladen von Peter Nell, einem alten Kommunisten und Autor des autobiografischen Romans „Der Junge aus dem Hinterhaus“, fährt Reiner Kunze zum außerordentlichen Schriftstellertreffen nach Berlin. Er ist dabei, als die Präsidentin Anna Seghers Georg Lukács verteidigt, einen der intellektuellen Köpfe des Petöfi-Klubs und damit des Ungarn-Aufstandes. Und er fragt sich: Wie passt das zusammen? Seghers und Lukács verbindet ein langer Briefwechsel. Während der Niederschlagung des Aufstandes in Budapest bittet sie Walter Janka, den Leiter des Aufbau-Verlages, Lukács nach Berlin zu holen. Janka wird verhaftet und wegen konterrevolutionärer Gruppenbildung und Verschwörung – er habe Lukács in die DDR schmuggeln und so den Sturz der Regierung herbeiführen wollen – zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Prozess, bei dem Anna Seghers anwesend ist, schweigt sie.
Reiner Kunze:
Ich war befreundet mit Peter Nell, er arbeitete im Ministerium für Kultur, in der Hauptabteilung Literatur, wo die Manuskripte eingereicht und begutachtet wurden. Seine Frau Edith und er waren sehr vernünftige Leute, parteipolitisch fest gebunden, aber es gab keine Tabus in den Gesprächen. Im Gegenteil.
Als Peter Nell 1957 sterbenskrank lag, besuchte ich ihn. Er hat meine Hand ergriffen und gesagt: „Reiner, es stimmt alles nicht. Wir haben für einen Irrtum gelebt.“
Dieser Peter Nell lud mich offiziell ein zu einer während der Ereignisse in Ungarn sofort einberufenen Schriftstellerversammlung in Ostberlin. Dort waren Anna Seghers, Stephan Hermlin, alle, die in der DDR-Literatur eine Rolle spielten. Ich gehörte da überhaupt nicht hin. Anna Seghers war da einmal mutig. Sie hat sich für Georg Lukács eingesetzt: „Ich glaube nicht, dass er ein Feind der Arbeiterklasse ist, denn er hat mich zur Kommunistin gemacht.“ Sie hat sich hundertprozentig hinter ihn gestellt.
Früh morgens bin ich nach Leipzig zurückgefahren, weil ich Seminar hatte. Da stehen oben auf der Holztreppe des Hintereingangs Fritz Raddatz und Klaus Höpcke, zwei Assistenten und Kollegen von mir. Ich sehe sie noch heute und höre sie fragen, was denn in Berlin gewesen sei und ich sage naiv: „Die Anna Seghers hat gesagt …“ Mittags Riesenversammlung über die ideologischen Unklarheiten des Assistenten Kunze.
Die ideologischen Aufpasser dürfen sich auf die Schultern klopfen. Die Parteileitung verlangt eine schriftliche Stellungnahme und jeder weiß, alles andere als reuige Selbstkritik hat weitere Disziplinierungsgespräche zur Folge. Reiner Kunze schreibt:
(…) Nach den Informationen unserer Zeitungen während der vergangenen Jahre war es mir unmöglich, die Situation in Ungarn und in der ungarischen Arbeiterpartei so genau zu kennen, dass ich im Augenblick mit fester Überzeugung einen Mann [Georg Lukács, d. Verf.] schuldig sprechen konnte, der bisher in unserem Staat hoch geachtet war und in seinen Werken klug und leidenschaftlich gegen alle reaktionären Theorien und faschistische Ideologien auftrat (…) Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es. Man hat mir zum Beispiel in einem dicken Buch bis in alle Einzelheiten dargelegt, welche Verbrechen die heute rehabilitierten ungarischen Genossen begangen haben.14
Gemeint ist damit vor allem Janos Kádár, der 1951 als ungarischer Innenminister wegen angeblicher Kollaboration mit Tito verurteilt wird und nach anfänglicher Unterstützung der Revolution nach ihrer Niederschlagung kompromisslos die sowjetischen Machtinteressen durchsetzt.
Mit dieser Stellungnahme zieht Reiner Kunze Zorn auf sich. Von diesem Zeitpunkt an heißt es in innerparteilichen Einschätzungen zu seiner Person, „daß KUNZE politisch solche Anschauungen vertrat, die letzten Endes revisionistischen Charakter trugen“.15 Seine Feststellung: „Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es“, ist willkommener Anlass für die boshafte Stigmatisierung „Kunze äußerte, daß er von der Partei ‚belogen und betrogen wurde‘, wodurch sein Vertrauen in die Partei ins Wanken geriet“.16
Politische Auseinandersetzungen führen die Parteidogmatiker mit Reiner Kunze von Anfang an. Begonnen hatte es mit einem Buch, dass ihm eine Tante zum Abitur geschenkt hatte. Im Internat stellt er es auf sein Bücherbrett: Franz Kafka, Ein Landarzt, und ahnt mit keiner Silbe, welche Folgen das hat:
Mittags große Institutsversammlung. Angeklagt Reiner Kunze wegen Verbreitung bürgerlich dekadenter Literatur. Die Verbreitung sah man darin, dass wir zu viert auf dem Zimmer waren und jeder Zugang hatte. Ich wurde eine Woche lang von einer Leitung zur anderen geschleppt, Parteileitung, Institutsleitung, Universitätsleitung … Überall musste ich Stellung nehmen, warum ich das gemacht hatte. – Bis sie begriffen, dass ich einfach nur ein Idiot war: Der hat wirklich keine Ahnung, wer Kafka ist. Ich bekam die Auflage, sofort zur Parteileitung zu gehen, wenn ich ein Buch in Händen halte, dessen Autor ich nicht kenne.
Mehrere Vorfälle führen dazu, dass die Zweifel wachsen. Immer wieder werden den Studenten Häuser zugeteilt, in denen sie Stockwerk für Stockwerk Bewohner agitieren müssen:
Das war eine ähnliche Sache wie in der Oberschule, und ich habe ebenso darunter gelitten. Unter anderem war auch eine Studentin eingeteilt, die im achten Monat schwanger war. In einer Seminargruppenversammlung bat sie, man möge sie von diesen Agitationseinsätzen freistellen, sie könne die Treppen nicht mehr steigen, und es werde ihr furchtbar schlecht. Sie habe dabei schon einmal erbrochen. Eine Dozentin machte diese Studentin fertig: „Wenn die Genossen im KZ alle so …“ Es war furchtbar. Da habe ich eine Glosse in Gedichtform geschrieben, die begann:
Genossen, Freunde, folgendes:
die Sache die ist die,
daß