Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer

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lange Zeit geschwiegen. Und das war schön! Es war alles gesagt.“

      Einmal, erzählt er, hätten sie gemeinsam eine Holzdecke mit Ölfarbe gestrichen. Der Pinsel durfte nicht tropfen. Nur die Pinselspitze wurde in Farbe getaucht, keine Nase durfte sich an der Decke bilden oder gar den Pinselstiel hinablaufen. Deshalb sei es nur langsam vorangegangen. Schweigend hätten sie die Arbeit verrichtet und es sei großartig gewesen. Jeder habe sich auf den anderen verlassen können. Dann, nach Stunden, das erste Wort des Vaters: „Na!?“ Was so viel bedeutet habe wie: Wollen wir eine Pause machen?

      Die Mutter Martha ist mit ihrem Temperament, ihrer Gesprächigkeit und ihrem Humor ganz das Gegenteil des schweigsamen Vaters. Kommen Gäste, gibt es ein Fest. Dann bieten die Eltern auf, was aufgeboten werden kann, auch wenn sie es sich eigentlich nicht leisten können. Selbst viel später, als die Eltern schon Rentner sind und Elisabeth und Reiner Kunze sie aus Greiz besuchen, ist es immer das gleiche Ritual: „Wenn wir wieder am Auto standen, brachte der Vater es nicht anders übers Herz. Er drückte mir einen Zwanzigmarkschein in die Hand. Ich darauf: ‚Papa, wir verdienen doch selber Geld!‘ Er: ‚Red nicht!‘“

      Bücher spielen im Elternhaus keine Rolle.

       Als meine Eltern gestorben waren, fand ich in dem großen Schrank, der durch alle Wohnungen mitgetragen worden war, ganz hinten hinter der Wäsche eine Bibel. Auch sie war ein Hochzeitsgeschenk. Diese Bibel hatte vierzehn Lesebändchen in verschiedenen Farben. Die waren noch so eingelegt, wie das Buch aus der Druckerei gekommen war. In ihr ist also nie gelesen worden.

      Reiner Kunze erzählt noch eine Episode über das Verhältnis seiner Eltern zum Buch. Wenn ein neues Buch von ihm gedruckt worden war, habe er seinen Eltern immer ein Exemplar gebracht. So konnten sie sehen, sagt er, dass auch die Arbeit ihres Sohnes etwas zum Anfassen war. Der Vater habe dann neues Packpapier geholt und das Buch nicht etwa eingebunden, sondern richtig eingepackt und in die Schublade geschoben: „Dort wurde es heilig aufbewahrt. Liebevoller geht es nicht. Warum sollte ich meinen Eltern etwas aufdrängen, das nicht in ihren Möglichkeiten lag.“

      Auch wenn Literatur, gar Lyrik in Kunzes Elternhaus nicht vorkommen, so verdankt er seine frühe lyrische Sensibilität doch vor allem der Mutter. Später wird der Dichter vielfach nach Einflüssen, nach Vorbildern gefragt werden, und manches wird in sein Werk hineininterpretiert. Doch der Schlüssel ist so einfach wie überraschend:

      Mein erster großer Eindruck – nicht nur literarisch, auch musikalischwaren die Volkslieder, die meine Mutter, wenn sie Handarbeit verrichtete, immer sang. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Strophen das Lied „Es waren zwei Königskinder“ hat. Sie kannte alle. Manchmal dichtete sie Volkslieder auch um auf ihr Leben. Einmal, sie hing Wäsche auf und sang, habe ich gesagt: „Aber das stimmt doch nicht!“ Sie fühlte sich ertappt und wollte keinesfalls zugeben, dass sie den Text weitergedichtet hatte.

       Meine Mutter hat sehr schön gesungen. In ihrer Jugend war sie Sängerin in einem Chor. Sie kommt aus einem bürgerlichen Elternhaus, ihr Vater war Steinmetz und besaß ein Steinmetzgeschäft. Sie waren mehrere Geschwister, und zu Hause wurde Hausmusik gemacht. Mit diesem Schatz in der Seele wurde sie eine Bergarbeiterfrau. Diesen Schatz hat sie sich bewahrt.

       Ich konnte viele Texte auswendig, noch bevor ich in die Schule ging. Ich weiß nicht mehr, ob ich auch die Melodien sang. Aber sie waren mir im Ohr. Für diesen Schatz bin ich bis heute dankbar. Viel später erst habe ich begriffen, was für großartige Kunstwerke Volkslieder sind, wie sie gebaut sind, wie viele Menschen über Generationen dran geformt haben, bis sie vollendet waren.

       Wenn ich die „Königskinder“ betrachte, alle Strophen sind in der gleichen Weise gebaut: „Es waren zwei Königskinder“. Das ist eine Feststellung. Melodisch beginnt sie mit einer Quint. Dann kommt eine Steigerung: „Sie hatten einander so lieb“. Diese Zeile beginnt mit einer verminderten Septime. Schließlich die letzte Steigerung: „Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief“. So geht das durch das ganze Lied. Und dann so eine Stelle: „Das Wasser war viel zu tief“. Das habe ich erst viel später begriffen: Darum ging es ja gar nicht! Wenn das Wasser tief war, was machte das? Aber was ist breit gegen tief! Diese Trennung ist ja viel furchtbarer.

       Diesen Grundstock verdanke ich meiner Mutter.

      Wer kann wie Reiner Kunze heute noch von sich sagen, er sei mit einem ganzen Volksliedschatz aufgewachsen? Diese Lieder von Liebe und Heimat, von Träumen und Sehnsüchten waren ein elementares Kulturgut der einfachen Menschen. Es sind Lieder, die gehen tief ins Innere. Das Innere der Dinge und des Seins aufzuschließen, wenn auch in einer ganz anderen poetischen Form, gehört zum Wesen von Kunzes Lyrik bis heute. Im Volkslied liegt eine der Wurzeln dafür. Die Volkslieder der Mutter haben den Dichter ebenso geprägt, wie die Verhältnisse, in denen er aufgewachsen ist.

       UNSERE EINFACHHEIT

      Unsere einfachheit hatte

      nicht einmal felder

      Der wiesengrund, wo es den bergmannsfrauen war erlaubt,

      die wäsche zu bleichen, gehörte

      dem hauswirt

      Selbst über die luft

      geboten andere:

      Auf das weiße bettleinen

      rieselten schlotasche und ruß,

      das gebleichte wurde

      nachgewaschen

      (…)

      So eine einfachheit war’s

      mit so einem himmel5

      Als Reiner Kunze geboren wird, liegen die Hungerjahre der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 hinter den Eltern. Doch diese Jahre hinterlassen Spuren. Mit acht Monaten bekommt das Baby am ganzen Körper ein endogenes, von innen kommendes Ekzem, später stellt sich Asthma ein, zwei Krankheiten, die den Jungen bis in die Pubertät schwer belasten. Die Mutter macht sich Vorwürfe, sie sei schuld an seiner Hautkrankheit, hatte sie sich während ihrer Schwangerschaft doch fast ausschließlich von Pellkartoffeln, Salz und Senf ernährt.

      Von klein auf lebt der Junge weitgehend isoliert von anderen Kindern. Es gibt kaum Zeiten, in denen ihm nicht die Knie oder die Ellenbogen verbunden sind, weil das Ekzem nässt, weil es blutet und eitert, wenn er daran kratzt. Deswegen bindet die Mutter ihm manchmal die Hände auf den Rücken. Als der Krieg beginnt, gibt es kaum Verbandszeug. Was es gibt, muss wieder und wieder gewaschen und gebügelt werden. Die von Eiter und Ichthyol-Salbe durchtränkten Verbände sehen abstoßend aus. Manche Eltern sagen: „Mit dem darfst nicht spielen. Der hat de Krätze.“

      Er hat nicht die Krätze, sein Ekzem ist nicht ansteckend, aber der Junge kann vieles von dem, was Kindsein ausmacht, nicht tun. Er darf weder schwimmen noch auf Bäume klettern. Im Turnunterricht ist er, wenn er überhaupt mittun darf, nicht nur der Kleinste, sondern auch der Ungeschickteste:

       Ich weiß noch, als wir einmal auf dem Schulhof Fußball spielen durften und zwei Schüler sich ihre Mannschaft zusammenriefen, stand ich zum Schluss allein. Ich hätte mich auch nicht in meine Mannschaft gewollt. Da sagte der Turnlehrer: „Wer den Reiner in seine Mannschaft nimmt, bei der spiele ich zur Belohnung in der zweiten Halbzeit mit.“

      Wir hatten auch zwei Banden in der Klasse, die einander bekriegten. Aber beide bekriegten mich. Ich habe mich oft nicht nach Hause getraut, habe zwei Stunden hinter

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