Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer

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      Wie die Dinge aus Ton

      Der Junge fügt sich in die Gegebenheiten: Gut, wenn Abitur nicht möglich ist, dann mache ich eben die Schusterlehre. In dieser Situation bekommen die Eltern im Sommer 1947 unerwartet einen Brief, ihr Sohn sei an der Oberschule in Stollberg angenommen. Er ist glücklich, strahlt. Was auch immer den Ausschlag gegeben hat, er darf sich zu den Auserwählten zählen. In die Schule geht er mit einem Gefühl der Dankbarkeit.

      Der nächste Winter, erinnert Reiner Kunze sich, wird außerordentlich streng. In dem Schulgebäude, einem riesigen gelben Klinkerbau, ist es kalt, es gibt keine Kohlen zum Heizen. Sie sitzen in Mäntel gehüllt und schreiben in Handschuhen. Ein Kanonenofen wird aufgestellt und die Bergmannskinder müssen reihum je zwei Briketts mitbringen:

       Um es wärmer zu bekommen, haben wir im Klassenzimmer an Holz abgebaut, was sich abbauen ließ, auch die Leisten um den streng geheimen, immer verschlossenen Aktenschrank. Eines Tages brach der Schrank zusammen und alles, die Bücher, unsere Zensurenhefte, das Klassenbuch, fiel heraus. Wir hatten nichts anderes zu tun, als das geheime Klassenbuch zu lesen. So habe ich erfahren, weshalb ich an der Oberschule aufgenommen worden war. Wegen eines überdurchschnittlichen Prüfungsaufsatzes, Thema: „Die Mühle im Tal“. So begann die „Literatur“ meinen Weg zu bestimmen – und sie sollte es das ganze Leben über tun.

      Während der Oberschulzeit versucht Reiner Kunze sich auf verschiedenen künstlerischen Gebieten, zeigt Talent fürs Malen und lernt Geige aus Liebe zur Musik, meint aber irgendwann, dass es ihm an musikalischer Begabung fehle. Zudem hat er einen Musiklehrer, der ihn auf seine Weise motiviert. Für einen falschen Ton setzt es einen Hieb mit dem Geigenbogen in den Nacken. Schließlich gibt der Schüler auf.

      Die Woche über wohnt Reiner Kunze im Schulinternat. Heute sagt er, die Zeit an dieser Oberschule habe er mit als seine bedrückendste Zeit erlebt. Er sei ohne jedes skeptische Rüstzeug und ohne intellektuelle Vorbildung dorthin gekommen. Wer Reiner Kunze kennt, weiß, dieser Mann retuschiert seine Biografie, auch die politische Naivität in seiner Jugend, nachträglich nicht. 1970 schreibt er, Bezug nehmend auf eine Briefzeile seines mährischen Dichterfreundes Jan Skácel, dieses Gedicht:

       WIE DIE DINGE AUS TON

      Aber ich klebe meine hälften zusammen

      wie ein zerschlagener topf

      aus ton.

      (Jan Skácel, brief vom februar 1970)

      1

      Wir wollten sein wie die dinge aus ton

      Dasein für jene,

      die morgens um fünf ihren kaffee trinken

      in der küche

      Zu den einfachen tischen gehören

      Wir wollten sein wie die dinge aus ton, gemacht

       aus erde vom acker

      Auch, daß niemand mit uns töten kann

      Wir wollten sein wie die dinge aus ton

      Inmitten

      soviel

      rollenden

      stahls

      2

      Wir werden sein wie die scherben

      der dinge aus ton: nie mehr

      ein ganzes, vielleicht

      ein aufleuchten

      im wind8

      Dieses Gedicht erzählt davon, wie der Glaube und das Vertrauen einer ganzen Generation missbraucht und zerbrochen wurden. Nur eine ganz, ganz kleine Hoffnung bleibt.

      Man muss sich hineinversetzen in die Zeit. Es sind die Hunger- und Aufbaujahre nach dem Krieg. Die Jugendlichen erfahren von den Gräueltaten der Nazis, sehen Bilder aus Konzentrationslagern. Die neue Gesellschaft steht dafür, dass das nie wieder passieren darf. Die Hoffnungsworte heißen Zukunft, Fortschritt, Sozialismus. Alles soll besser werden. Das will auch er.

      Der Bericht über eine Schulkonferenz im Jahr 1958 zeugt von der Atmosphäre an der Stollberger Oberschule. Obwohl sieben Jahre dazwischen liegen, braucht es wenig Fantasie, sich diese Konferenz 1951 vorzustellen, als Kunze dort Schüler war.

      In die Aula eingeladen sind „218 Eltern unserer Arbeiter- und Bauernkinder und die Genossen der Sozialistischen Einheitspartei.“ Die Inhalte der Referate und die Diskussionsredner werden im Vorfeld festgelegt. Nichts wird dem Zufall überlassen. Ein Drittel der Eltern folgt der Einladung der Schulleitung, dazu Funktionäre des regionalen Parteiapparates und des „Pädagogischen Rates“.

      Die erste Kritik wird am mangelnden Interesse in den Elternhäusern laut. Es zeige, hier müsse weit mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden. In dieser Konferenz geht es nicht um eine Analyse von Bildung und Wissen. Aufgabe ist es, „den Stand der sozialistischen Erziehung an unserer Schule zu überprüfen und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung einzuleiten“.

      Als Bilanz bisheriger Erziehungserfolge wird verkündet: „… 47 Meldungen zum Dienst in der Nationalen Volksarmee, Arbeitseinsätze im Nationalen Aufbauwerk, bei der Ernte …, beim Bau eines Schießstandes …“ Anschließend werden die Anwesenden konfrontiert mit „Misserfolgen und offensichtlichen Mängeln in der gemeinsamen Erziehungsarbeit“: Acht Schüler, die im letzten halben Jahr „unseren Arbeiter- und Bauernstaat verraten haben und republikflüchtig wurden“, werden mit Namen und Wohnort genannt.

      Der stellvertretende Direktor fordert: Eltern republikflüchtiger Schüler haben die Ausbildungskosten zurückzuerstatten; Schüler, von denen Angehörige Republikflucht begangen haben, sind von der Schule auszuschließen; nur noch „solche Grundschulabgänger werden in die Oberschule aufgenommen, die … durch ihre Teilnahme an der Jugendweihe sich zu unserem Staat der Arbeiter und Bauern bekennen.“

      Mehrere Diskussionsredner ergehen sich in scharfen Attacken gegen zwei Pfarrer, die das Recht auf Religionsfreiheit und Konfirmation verteidigt haben. Das seien „Machenschaften, die religiöse Gefühle für reaktionäre Zwecke mißbrauchen“. Alle Anwesenden stimmen einem vorbereiteten Schreiben an die Kirchenleitung zu, das ihre „Empörung“ angesichts der „starren und reaktionären Haltung“ der beiden Pfarrer ausdrückt. Der Brief kulminiert in dem Satz: „Ihre Stellung gegen die Jugendweihe ist nichts anderes als ein bewusstes Hemmen unseres sozialistischen Aufbaus.“9

      Dieses Klima herrscht an dieser Schule, über deren Eingangsportal die Worte „Gott sei Gloria“ aus dem Sandstein herausgemeißelt sind. Kirchenkampf, Ausgrenzung junger Christen, Sippenhaft bei Republikflucht und Militarisierung sind Teile der „sozialistischen Erziehung“. Die tägliche Indoktrination zeigt Wirkung.

      In Kurzbiografien über Reiner Kunze liest man das Wort „SED“. Auch dahinter steht eine Geschichte.

      Die Lehrer schätzen die Freundlichkeit des Schülers, seinen Lerneifer und die Zuverlässigkeit bei der Erfüllung „gesellschaftlicher Aufträge“. Eines Tages klopfte der Direktor während des Unterrichts an die Tür. Er rief mich heraus und sagte: „Wir haben beschlossen, dich als Kandidat für die

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