Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer страница 8

Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer

Скачать книгу

       Das Gedicht habe ich dem Eulenspiegel geschickt, und soweit ich mich entsinnen kann, ist es erschienen. Jedenfalls ist es bekannt geworden. Wie schon bei Kafka war es wieder so weit, dass ich ein Jahr in die Produktion sollte, um mit der Arbeiterklasse Verbindung herzustellen. Dass es nicht soweit kam, verdanke ich einem ukrainischen Professor, er hieß Ruban. Er las an der Fakultät „Sowjetische Literatur“. Für ihn habe ich von Vorlesung zu Vorlesung die Gedichte übersetzt, die er uns vorstellen wollte. Als ich ihm dankte, sagte er abwinkend: „Ich musste Sie verteidigen, denn ich habe Sie gebraucht.“

       Das war ein ganz wunderbarer Mensch. Nach dieser Geschichte verschwand er. Ich nehme an, jemand hat ihn denunziert. Nach ihm kam ein Ultraorthodoxer, der war hochgefährlich.

       Ein Haarriss folgte dem anderen, bis das Gefäß zersprang. Wenn sie indoktriniert sind, versuchen sie immer wieder eine Entschuldigung zu finden, nicht für sich, sondern für die Sache: Das ist schlecht gemacht, oder das sind Menschen, die unfähig sind.

       Ich musste mich erst durch die ganze Ideologie hindurchdenken und hindurchleiden, bis ich so weit war zu sagen: Das ist keine menschliche Ideologie. Das ist ein furchtbares System, das über den Menschen hinweggeht.

       Noch ein Beispiel: Ein sorbischer Student ging zur Parteileitung und sagte, er wolle heiraten, er glaube nicht an Gott, gehe auch nicht in die Kirche, aber seine Frau sei katholisch. Ihre Eltern und Verwandte wünschten, dass sie katholisch heiraten. Die Partei solle bitte Verständnis dafür haben. Er wurde exmatrikuliert.

      Wie jeder an der Fakultät wird auch Reiner Kunze von Genossen beobachtet, die Berichte schreiben, und die Parteileitung verdichtet deren Informationen:

       Ein großer Teil von Studenten, die K. als Assistent zu betreuen hatte, sahen in ihm ein Vorbild. Ein guter Freund von K. ist der Student … parteilos. … wurde als noch nicht politisch reif genug angesehen, um als Journalist eingesetzt zu werden.

       Die Studentin … wurde von K. ebenfalls gefördert. Sie ist parteilos und konnte ebenfalls auf Grund polit. Unreife noch nicht als Journalistin eingesetzt werden. K. hatte Leistungsstipendium für … befürwortet. Der Vater von … wurde vor Jahren republikflüchtig.

       Aus gleichen Gründen der noch unpolit. Reife konnte auch der Student … noch nicht eingesetzt werden. Auch dieser Student gehört zu den sogenannten Kunzianern. (…) Auffallend ist …, daß K. sehr viele persönliche Aussprachen mit seinen Studenten führt, zum Teil auch in seiner Wohnung. 17

      Kunzes Seminargruppe, die ursprünglich aus zwanzig Studenten besteht und nach zwei Jahren auf dreizehn dezimiert ist, wird eine „denkbar schlechte Zusammensetzung“ bescheinigt.

      Eine Handhabe gegen den Störfaktor Kunze erhofft sich die Parteileitung 1958. Sie wird informiert, die Staatssicherheit habe ihn aufgrund seiner Verbindung zu dem „amerikanischen Agenten Ronald Lötzsch“ vernommen.

      Eine außerordentliche Parteiversammlung wird einberufen. Er solle zugeben, dass er Verbindungen zu einer konterrevolutionären Gruppe unterhalte. Nach dem Muster politischer Prozesse soll er ein Geständnis ablegen. Der Druck ist enorm. Nicht weniger als die Wachsamkeit der Parteigenossen steht auf dem Spiel. Sie bluffen, fordern, er solle seine konterrevolutionären Verbindungen eingestehen. Woher soll er auch wissen, dass der Genosse von der Staatssicherheit nur empfohlen hatte, künftig ein Auge auf ihn zu haben.

      Reiner Kunze weiß zu dem Zeitpunkt nichts von einer Gruppe um Wolfgang Harich und Walter Janka, nichts von ihrer Plattform für einen „besseren deutschen Weg zum Sozialismus“. Von dem Kreis um Erich Loest und Wolfgang Zwerenz und ihrer Kritik an der Kulturpolitik der SED hat er nur entfernt gehört. Er weigert sich, zu gestehen, was er nicht gestehen kann: „Etwas einzugestehen, dass ich nicht getan habe, dazu habe ich mich nie in meinem Leben hinreißen lassen.“

      Seine Bekanntschaft mit dem der amerikanischen Agententätigkeit bezichtigten und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Ronald Lötzsch reicht zurück in die Stollberger Schulzeit. Dort unterrichtete Lötzsch nach dem eigenen Abitur in Kunzes Klasse Russisch. Nach einem Studium in Leningrad studiert er in Leipzig Slawistik. Gelegentlich besuchen sich die beiden. Lötzsch interessiert sich für die Situation in Polen. Die Wirtschaftskrise dort führt im Juni 1956 von Poznań aus zum Arbeiteraufstand, die stalinistische Führung wird entmachtet, Władysław Gomułka wird der neue Hoffnungsträger, wie Imre Nagy in Ungarn. Ronald Lötzsch liest polnische Zeitungen und sucht Kontakt zu polnischen Journalisten. In Polen findet der Aufbruch statt, den viele in der DDR vermissen. Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU wird in polnischen Zeitungen abgedruckt und Lötzsch übersetzt sie für Kunze. Etwas später bekommt Kunze auch von Paul Wiens eine im Westen gedruckte Fassung. Diese Rede ist eine Sensation. Erstmals ist von ideologischen Irrtümern Stalins, von seiner Verantwortung für Massenmorde an Kommunisten bei den Säuberungen in den dreißiger Jahren zu hören. Auch wenn der neue Generalsekretär die ganze Dimension kommunistischer Verbrechen, die Gulags, die Zwangskollektivierung mit Abermillionen Hungertoten, verschweigt, stellen sich Intellektuelle in allen Staaten des sowjetischen Lagers jetzt die Frage: Wenn es in der Sowjetunion Irrtümer und Verstöße gegen Demokratie gegeben hat, gibt es die nicht auch bei uns? Walter Ulbricht ist sich nach seiner Rückkehr aus Moskau durchaus der Brisanz bewusst. Er wiegelt ab, die SED habe keine Entstalinisierung nötig, weil es in ihr keine Stalinisten gebe. Doch die Fragen sind nicht mehr aufzuhalten.

      Ronald Lötzsch besucht bei Erich Loest einige Male einen Kreis, der die Verhältnisse hinterfragt und kulturpolitische Reformen einfordert. Loest stellt aufgebracht die Frage: „Hat nicht Ulbricht höchstpersönlich das Studium der Stalin-Biografie befohlen? Der Mann muss weg!“

      Lötzsch lädt Kunze in diesen Kreis ein. Doch Kunze lehnt ab. Loests Auftreten ist ihm zu vierschrötig. Das rettet ihn vor dem Zuchthaus, als Walter Ulbricht an Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, Erich Loest, Ronald Lötzsch, Karl Schröter, Richard Wolf, Heinz Zöger ein Exempel statuieren lässt.

      Reiner Kunze sagt zu seinen Gesprächen mit Ronald Lötzsch:

       Wir haben gar nicht so viel diskutiert. Er hat mich vor allem informiert. Vor der Staatssicherheit hat er dann Dinge preisgegeben, die ich nie preisgegeben hätte. – Zum Beispiel, dass er bei uns am Radio ausländische Sender gehört hatte. Deshalb wollte man im Verhör von mir wissen, was das für Sender gewesen seien. Ich habe gesagt: „Keine Ahnung, der hat mal gedreht. Das war eine fremde Sprache. Ich habe nichts verstanden.“

      In dieser vierstündigen Vernehmung am 29. März 1958 verhält Reiner Kunze sich überaus geschickt. Mit seinen Antworten versucht er, Lötzsch möglichst zu entlasten und sich nicht zu belasten. Im Vernehmungsprotokoll liest sich seine Aussage so:

       Frage: Welche Einstellung hatte Ronald LÖTZSCH zur Deutschen Demokratischen Republik?

       Antwort: Ich kenne Ronald LÖTZSCH als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei und weiß, daß er stets eine gute politische Arbeit im Sinne dieser Partei geleistet hat. Mir ist nichts … aufgefallen, was sich gegen die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte Politik gerichtet hätte. Etwas anderes kann ich hierzu nicht sagen. Frage: Wie schätzte Ronald LÖTZSCH die Ereignisse in der Volksrepublik Polen im Oktober 1956 ein?

       Antwort: Ronald LÖTZSCH hatte für die Ereignisse in Polen im Oktober 1956 sehr großes Interesse. Er las ständig die Presse der Volksrepublik Polen und informierte mich wiederholte Male über den Inhalt verschiedener Artikel. Was er mir im einzelnen mitteilte, ist mir jedoch heute nicht mehr in Erinnerung.

      

Скачать книгу