Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Reiner Kunze. Dichter sein - Udo Scheer

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gerade zwei Monate zuvor beschlossenen Bitterfelder Weg, den Konsens der Staatskünstler, in ihren Werken primär die Arbeitswelt und die Erfolge des Sozialismus darzustellen und zu preisen. Stattdessen veröffentlicht er Gedichte, die der Liebe und Erotik huldigen.

      Kommt er, dann werben

      Lippen und Arme,

      bis er gegangen,

      und aus den Brüsten

      drängen die derben

      Hände

      das Blut in die Wangen.

      (…)

      Die Liebe

      ist eine wilde Rose in uns,

      unerforschbar vom Verstand

      und ihm nicht untertan.

      Aber der Verstand

      ist ein Messer in uns.

      Der Verstand

      ist ein Messer in uns,

      zu schneiden der Rose

      durch tausend Zweige

      einen Himmel.32

      Für spätere Veröffentlichungen streicht er die ersten sieben Verse und das Gedicht wird unter dem Titel „Die Liebe“ eines seiner dauerhaft gültigen. Seinen Gegnern sind die gesendeten Gedichte eine Ungeheuerlichkeit. Die Parteiorganisation der Fakultät schaltet den Parteisekretär des Staatlichen Rundfunkkomitees ein und verlangt, die Kultredakteure zu maßregeln. Gegen Reiner Kunze wird am 9. Juni 1959 ein Parteiverfahren eröffnet. Der Vorwurf: Beteiligung an konterrevolutionären Aktivitäten und parteischädigendes Verhalten. Als er zu seiner Entlastung zwei Zeugen befragen lassen will, soll es Klaus Höpcke gewesen sein, der vom Präsidium aus dazwischenfährt: „Wir sind hier nicht in einer bürgerlichen Gerichtsversammlung, wo man Zeugen aufrufen kann.“

      Es gab eine große Versammlung, die dauerte sieben Stunden, bis Mitternacht. Mir wurde vorgehalten: „Wer solche Gedichte schreibt, kann keine sozialistischen Studenten erziehen.“ – „Mit solchen Gedichten lenkt Kunze von den wesentlichen Aufgaben des Sozialismus ab.“ Das war der Hauptvorwurf. Ich solle mich an Gedichten von Mao Tsetung orientieren: „Das sind auch Liebesgedichte, aber die haben einen Klassenstandpunkt.“ Mir wurde gesagt, entweder ich nehme selbstkritisch Stellung und bekenne, was mir vorgeworfen wird, dann werde die Partei beraten und es wäre nicht unbedingt die Trennung, oder … Daraufhin habe ich gesagt: „Ich distanziere mich nicht von meinen Gedichten.“ Das hat genügt. Das Ergebnis dieses Tribunals ist eine einstimmige Parteirüge wegen „parteifeindlichen Verhaltens, das zu schädlichen Auswirkungen in Lehre und Erziehung der Studenten führte“.33 Eine Rüge ist die zweithöchste Strafe vor dem Parteiausschluss. Dieses Mal geht der Dekan auf Kunzes Kündigung ein. Gleichzeitig hält er noch einmal seine Hand über ihn. Er unterschreibt nicht die Kündigung, sondern einen Aufhebungsvertrag.

      In der Vergangenheit hatte der Dekan sich auch gegenüber der Staatssicherheit schützend vor seinen Assistenten gestellt. Jetzt verdichten die Mitarbeiter des MfS das gesammelte Material und eröffnen im Januar 1960 einen „Vorlauf Operativ“, eine Überwachung unter dem Decknamen „Reporter“34 Zwei Inoffizielle Mitarbeiter und eine „Quelle“ im Schriftstellerverband werden auf ihn angesetzt, verstärkte Überwachung erfolgt zur Leipziger Messe. Geklärt werden soll, ob er über Kontakte in die Bundesrepublik verfügt, dort veröffentlicht und ob er weiter „revisionistische Theorien“ verbreitet. Als die operative Bearbeitung in Leipzig anlaufen soll, ist er schon nicht mehr dort, sondern in Berlin. Im März 1961 wird die Akte geschlossen, die Begründung: Eine „direkte Feindtätigkeit“ wurde nicht festgestellt.

      Seine Universitätslaufbahn ist im Juni 1959 beendet. Das Credo dieser Jahre fasst er in Epigramme wie dieses:

       Dialektik

      Unwissende damit ihr

      unwissend bleibt

      werden wir euch

      schulen35

      Die nächsten Monate montiert er als Hilfsschlosser Achsen für Schreitbagger im VEB Schwermaschinenbau Leipzig. Nachts schreibt er, bis er gesundheitlich dazu nicht mehr in der Lage ist. Er hält weiter Kontakt mit Schriftstellerkollegen. Erwin Strittmatters Fürsprache ermöglicht es ihm, Nachwuchsschriftsteller in Berlin auszubilden. Das verschafft ihm eine Grundsicherung.

      Jetzt kann er, was er wirklich will, Dichter sein, und er erkennt, als Dichter bestehen kann er nur, wenn er zu seiner ureigensten Sprache findet. Doch die wiederum findet er nur, wenn er seine Themen selbst setzt. Er entdeckt, Gültiges gelingt ihm nur aus eigenem Erleben heraus. Nur dann stellen sich Assoziationen ein, die die Dinge tiefer durchdringen. Nur dann ist es möglich, Dinge und Geschehnisse auf ihr Wesen zu reduzieren – und im Leser Bilder und Empfindungen zu wecken. Damit stellt er sich außerhalb des „Hochwaldes“, der seine Bäume zum Gleichmaß erzieht.

       DER HOCHWALD ERZIEHT SEINE BÄUME

      Der hochwald erzieht seine bäume

      Sie des lichtes entwöhnend, zwingt er sie,

      all ihr grün in die kronen zu schicken

      Die fähigkeit,

      mit allen zweigen zu atmen,

      das talent,

      äste zu haben nur so aus freude,

      verkümmern

      Den regen siebt er, vorbeugend

      der leidenschaft des durstes

      Er lässt die bäume größer werden

      wipfel an wipfel:

      Keiner sieht mehr als der andere,

      dem wind sagen alle das gleiche36

      Ihm wird bewusst, was er in seinen lyrischen Anfängen verfasst hat, war selten mehr als die Illustration vorgegebener Ideen. Noch dazu im hohen Ton des Pathos konnte dabei nur Plattheit herauskommen: „Die fähigkeit … das talent … verkümmern.“

      Für Reiner Kunze völlig unerwartet verändert die Lyriksendung im Berliner Rundfunk im Juni 1959 ein zweites Mal sein Leben. Wieder sind seine Gedichte der Grund. Fast ein halbes Jahr nach der Sendung erreicht ihn eine Karte aus Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem). Eine Hörerin bittet darauf in perfektem Deutsch um eines der Gedichte. Nach der Handschrift vermutet er eine pensionierte Germanistin. Er schickt dieser Elisabeth Littnerová seinen Gedichtband Vögel über dem Tau und es entspinnt sich ein Briefwechsel, der nach anderthalb Jahren vierhundert Briefe umfasst. Elisabeth Kunze erzählt darüber: Ich hatte Spätdienst in der Poliklinik und kam etwa um zehn Uhr nach Hause. Ich hab mir mein Abendessen gemacht, Kartoffeln geschält und das Radio eingeschaltet. Sie brachten Gedichte. Bei einem musste ich aufhören zu schälen. Es war „Das Märchen vom Fliedermädchen“. Ich war so berührt, dass ich das Gedicht haben wollte. Aber ich wusste nicht, welcher Sender es war.

       Am nächsten von Aussig lag Dresden. Also hab ich

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